„Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreis­klas­se“, Kapi­tel 7

"Sonntagsschüsse" Buchcover

„Sonn­tags­schüs­se“ Buchcover

ASV Neun­dorf – TSV Wei­her­fel­den (Vor­be­rei­tungs­spiel)

Am näch­sten Mor­gen um Punkt 7 Uhr klin­gel­te mein Wecker. Das ner­vi­ge Bim­meln dröhn­te qual­voll in mei­nem Kopf. Ich ver­such­te, mich zu dre­hen, aber mein gan­zer Kör­per fühl­te sich ver­spannt an. Es gab kei­ne Stel­le, die nicht schmerz­te. Ich knip­ste das Licht der Nacht­tisch­lam­pe an, und das grel­le Leuch­ten blen­de­te mei­ne über­mü­de­ten, gerö­te­ten Augen. Mir war hunde­ elend. Was will denn die­ser blö­de Wecker von mir? Ver­dammt, der Zivil­dienst! Heu­te ist mein erster Tag! Mit gna­den­lo­sem Pochen hin­ter mei­nen Schlä­fen erhob ich mich aus dem Bett und schlen­der­te zum Fen­ster, um mein Spie­gel­bild zu betrach­ten. Vier bei Berüh­rung höl­lisch bren­nen­de Brand­lö­cher zier­ten mei­ne Brust. Mit dem Anblick der Reli­qui­en der eupho­ri­schen Nacht im Blue Bear kehr­te auch die Erin­ne­rung an den feucht­fröh­li­chen Vor­abend zurück. Ein brei­tes Grin­sen husch­te über mein lei­chen­blas­ses Gesicht. Kör­per­lich fühl­te ich mich grau­en­voll. Aber ich begann mein neu­es Leben beim TSV Wei­her­fel­den zu lieben!

Arbeits­tech­nisch wur­de es ein schlim­mer Tag.

Ein lau­ni­sches „Toll, noch so einer!“ war der ein­zi­ge Kom­men­tar, den mei­ne neue Che­fin beim Zivil­dienst für mich übrig hat­te, als ihr eine hef­ti­ge Alko­hol­fah­ne ent­ gegen­schlug, die ich weder durch Zäh­ne­put­zen noch durch Kau­gum­mis oder Scho­ko­la­de ver­tu­schen konn­te. Man hat­te mich in den Bereich MSHD ein­ge­teilt. Ich war so froh gewe­sen, schnell eine Zivi­stel­le ge­ fun­den zu haben, dass ich gar nicht wei­ter nach­ge­fragt hat­te, wel­che Auf­ga­ben man im MSHD hat­te. Die mei­sten Zivis waren im Fahr­dienst beschäf­tigt. Aber den gan­zen Tag Auto zu fah­ren war bestimmt auch stinklangweilig.

Am Ende mei­ner Gebäu­de­füh­rung zeig­te mir mei­ne Che­fin Sil­ke den Zivi-Auf­ent­halts­raum, in der ein klei­ner Fern­se­her und eine alte abge­wetz­te Couch stan­den. Zwei Zivis hat­ten es sich auf der Couch bequem gemacht und sahen sich eine Talk­show an. Sil­ke ließ mich kurz mit mei­nen Kol­le­gen allein, um in ihrem Büro noch ein paar Unter­la­gen für mich zu holen.

„Bist du der neue Fah­rer?“, frag­te einer der Bei­den, ohne den Blick vom flim­mern­den Fern­se­her abzuwenden.

„Nein, MSHD“, ant­wor­te­te ich.

„Oh, Arsch abwi­schen“, kom­men­tier­te der ande­re Zivi und zuck­te mit­lei­dig mit den Schultern.

Am lieb­sten hät­te ich mei­nen Kopf gegen die näch­ste Wand geschla­gen. Du Voll­idi­ot, ver­fluch­te ich mich inner­ lich. War­um konn­test du nicht ein ein­zi­ges Mal dein Des­in­ter­es­se über­win­den und nach­fra­gen, was die­ses MSHD über­haupt ist? Mei­ne Vor­freu­de auf die näch­sten 10 Mona­te kann­te kei­ne Grenzen.

„Du siehst aber gar nicht gut aus“, bemerk­ten mei­ne neu­en Kol­le­gen grinsend.

„Wir haben gestern ein wich­ti­ges Fuß­ball­spiel gewon­ nen und haben etwas zu viel gefeiert!“

„Wo spielst du denn?“

„Wei­her­fel­den.“

„Wow, dann habt ihr gestern Leim­bach aus dem Pokal gewor­fen? Respekt! Da kann man schon mal einen über den Durst trinken.“

„Oder zwei“, erwi­der­te ich mit flau­em Magen und erin­ner­te mich unwei­ger­lich an die Brand­lö­cher auf mei­ner Brust. Ich über­leg­te fie­ber­haft, wie oft ich in den letz­ten vier Wochen „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ gemur­melt hat­te. Auf jeden Fall häu­fi­ger als wäh­rend einem gan­zen Jahr in Hamburg.

Inzwi­schen war Sil­ke aus ihrem Büro zurück­ge­kehrt, hän­dig­te mir mei­nen frisch gedruck­ten Dienst­plan aus und gab mir ein paar letz­te Anwei­sun­gen mit auf den Weg: „Eigent­lich hät­test du in den ersten Tagen unse­ren erfah­re­ne­ren Zivi Ernst beglei­ten sol­len. Aber der ist aktu­ell krank. Du musst also allein klar­kom­men. Dafür haben wir dir die­se Woche nur leich­te Fäl­le gege­ben. Heu­te wirst du mit Alfred Graubel ein­kau­fen gehen. Der alte Mann ist noch ganz fit. Es soll­te also kein Pro­blem sein. Die Adres­se steht auf dem Dienst­plan. Hier ist der Schlüs­sel zum Zivi-Dienstwagen.“

Sil­ke mach­te eine kur­ze Pau­se, starr­te in mein aus­ drucks­lo­ses, krei­de­blei­ches Gesicht und füg­te dann ein zöger­li­ches „Noch Fra­gen?“ hinzu.

„Ja, ähm.“ Die Fra­ge war mir ver­dammt noch­mal pein­lich. Sil­ke späh­te hek­tisch auf ihre Arm­band­uhr und warf mir einen unge­dul­dig for­dern­den Blick zu. „Wofür steht eigent­lich MSHD?“

Mit ungläu­bi­ger Mie­ne starr­te Sil­ke mich an, wäh­rend die bei­den Fahr­dienst-Zivis erfolg­los ver­such­ten, ein pru­sten­des Lachen zu unter­drücken. Ich war auf dem besten Wege, mir hier beim Zivil­dienst eben­so schnell einen zwei­fel­haf­ten Ruf auf­zu­bau­en wie beim TSV Wei­her­fel­den. Na wun­der­bar!

„MSHD steht für Mobi­ler Sozia­ler Hilfs­dienst. Du wirst in den näch­sten 10 Mona­ten prak­tisch alte, kran­ke und behin­der­te Men­schen in deren eige­ner Woh­nung im Haus­halt unter­stüt­zen“, erklär­te Silke.

„Und was genau muss ich da machen?“

„Put­zen, Ein­kau­fen, Boten­gän­ge, Kochen, Betreu­ung zu Hau­ se. Alles was im Haus­halt eben so anfällt.“

Bei der Auf­zäh­lung die­ser gan­zen Auf­ga­ben ging mir der „Arsch abwischen“-Kommentar mei­ner Zivi-Kol­le­gen nicht aus dem Kopf. Viel­leicht war es ja gar nicht so schlimm.

Als ich den Zivi-Dienst­wa­gen auf­sperr­te, bemerk­te ich zum ersten Mal, wie hart das Spar­pro­gramm einer sozia­len Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on sein muss­te. Selbst für einen alles ande­re als groß­ge­wach­se­nen jun­gen Mann wie mich war es eine ech­te Her­aus­for­de­rung, mich in den win­zi­gen Seat Mar­bel­la zu zwän­gen. Der Wagen ver­mit­tel­te nicht mehr Gefühl von Sicher­heit als ein Papp­kar­ton, in dem man mit 100 Stun­den­ki­lo­me­tern auf eine Mau­er zufuhr. Skep­tisch dreh­te ich den Schlüs­sel im Zünd­schloss, und sie­he da, beim drit­ten Ver­such sprang das Auto sogar an. 10 Mona­te sind wirk­lich eine ver­dammt lan­ge Zeit, dach­te ich verbittert.

Alfred Graubel aber war eine posi­ti­ve Über­ra­schung. Der lusti­ge Mann Anfang Sieb­zig hat­te stets einen flot­ten Spruch auf den Lip­pen. Auch die Arbei­ten, die ich für ihn aus­füh­ren soll­te, waren halb so schlimm. Holz holen, den Ofen anschü­ren, den Müll raus­brin­gen. Alles kei­ne gro­ße Sache.

„So Jun­ge, jetzt gehen wir ein­kau­fen“, ent­schied Alfred letz­ten Endes. Zu Hau­se konn­te er sich geschickt von einem Zim­mer zum ande­ren schlep­pen. Aber beim Ver­las­sen sei­ner Woh­nung war der alte Mann auf einen Roll­stuhl ange­wie­sen. Ich half ihm in den Seat Mar­bel­la, was sich als sehr müh­sa­mes Unter­fan­gen her­aus­stell­te. Wer zum Teu­fel schafft denn so ein Auto an, wenn man damit alte und behin­der­te Men­schen beför­dern soll? Als der Roll­stuhl im klei­nen Kof­fer­raum mei­ner Schrott­ki­ste ver­staut war, ging die Fahrt in das Forch­hei­mer Stadt­ zen­trum los.

„Du siehst aber ganz schön über­mü­det aus, Jun­ge“, bemerk­te mein geh­be­hin­der­ter Beifahrer.

„Ja, war eine lan­ge Nacht gestern.“

„Gab es etwas zu feiern?“

„Ja, wir haben ein wich­ti­ges Fuß­ball­spiel gewonnen.“

„Na dann pass mal auf, dass du kei­nen Unfall baust, Jun­ge. Immer schön dar­an den­ken: Fährst du rück­wärts an den Baum, ver­klei­nert sich der Kofferraum!“

Als ich wenig spä­ter vier Ein­kaufs­tü­ten voll mit Sup­pen­tü­ten, Back­wa­ren, Obst und Gemü­se im Auto ver­staut hat­te, woll­te ich Alfred auf den Bei­fah­rer­sitz hel­fen. Doch er schüt­tel­te den Kopf.

„Wir haben noch etwas Zeit. Machen wir doch noch einen kur­zen Spa­zier­gang in die Stadt.“

Es war ein war­mer, son­ni­ger Tag, und ein Spa­zier­gang durch die Forch­hei­mer Fuß­gän­ger­zo­ne war mir alle­mal lie­ber als Haus­ar­beit. Lei­se vor mich hin pfei­fend, schob ich mei­nen Pati­en­ten über die holp­ri­gen Pfla­ster­stei­ne. Alfred Graubel saß in sei­nem Roll­stuhl wie ein klei­ner Pro­vinz­kö­nig. Wir konn­ten kei­ne fünf Meter gehen, ohne dass uns ein „Ser­vus Alfred“ ent­ge­gen­schall­te. Der alte Mann saß in sei­nem rol­len­den Thron und hat­te kaum Gele­gen­heit, sei­ne maje­stä­tisch grü­ßen­de Hand wie­der herunterzunehmen.

„Du bist ja bekannt wie ein bun­ter Hund“, stell­te ich schließ­lich fest.

„Alles alte Feu­er­wehr­kol­le­gen. Oder Bade­gä­ste, die ich frü­her aus dem Was­ser fischen muss­te. Ich war mal Bade­mei­ster im Stadt­frei­bad. Bleib mal bit­te dort drü­ben ste­hen. Wir trin­ken jetzt ein Konterbier!“

„Ein was?“

„Ein Kon­ter­bier. Du siehst aus, als hät­test du einen ganz schö­nen Kater.“

Ich hat­te am Mor­gen mein Spie­gel­bild gese­hen. Es hat­te kei­nen Sinn, mei­nen erbärm­li­chen Zustand zu leugnen.

„Wenn du nach einer durch­zech­ten Nacht einen Kater hast, musst du am näch­sten Mor­gen ein­fach ein Alles wie­der gut Bier trin­ken. Dann geht es dir schnell besser.“

„Aber ich muss doch noch fah­ren!“, wink­te ich ab­ weh­rend ab.

„Pap­per­la­papp! Ein klei­nes Bier hat noch nie­man­dem gescha­det. Und in dei­ner lum­per­ten Zivi-Schrott­kar­re hält dich sowie­so kei­ner an!“

Seit mei­ner Ankunft in Fran­ken hat­te ich irgend­wie ver­lernt, mich gegen das Ange­bot von Alko­hol zu un­ pas­send­sten Gele­gen­hei­ten zu weh­ren. Gehor­sam schob ich Alfred an einen frei­en Tisch. Er bestell­te zwei „Seid­la“ Bier. Tat­säch­lich ging es mir nach­her bes­ser. Kon­ter­bier. Das muss ich mir mer­ken! In mei­ner Freu­de über die schluck­wei­se schwin­den­den Kopf­schmer­zen ver­ schwen­de­te ich kei­nen Gedan­ken dar­an, wie fahr­läs­sig das Kon­ter­bier in die­sem Augen­blick gewe­sen war. Ver­nunft kommt eben erst mit dem Alter. Wobei Alfred das The­ma Ver­nunft offen­bar bereits wie­der hin­ter sich gelas­sen hat­te. Alles in allem war es ein lusti­ger Nach­ mit­tag mit einem sehr unter­halt­sa­men alten Mann. Viel­leicht war MSHD doch nicht so schlimm, wie ich befürch­tet hatte.

In die­ser Woche hat­te Wil­li das Freund­schafts­spiel bereits für den Sams­tag­nach­mit­tag ver­ein­bart. Denn am Abend war ein Ka­ merad­schafts­abend zum Ende der Sai­son­vor­be­rei­tung geplant. Wir waren beim ASV Neun­dorf zu Gast. Ein leich­ter Geg­ner, der eine Klas­se unter uns spiel­te. Es war ein sehr klei­ner Ort. Ich wun­ der­te mich, wie man in so einem Dörf­chen über­haupt eine Fuß­ball­mann­schaft zusam­men­stel­len konn­te. Der ASV Neun­dorf hat­te einen schma­len, holp­ri­gen Platz in abge­schie­de­ner Lage neben einem gro­ßen Bau­ern­hof. Das Sport­heim hin­ge­gen befand sich zwei Kilo­me­ter ent­fernt im Orts­kern, so dass wir den Fuß­weg als Aufwärm­ gele­gen­heit nutz­ten. Wir führ­ten rasch mit 2–0. Der Geg­ner war sorg­sam aus­ge­wählt, um uns vor dem ersten wich­ti­gen Punkt­spiel in Hohen­stein mit dem nöti­gen Selbst­be­wusst­sein aus­zu­stat­ten. Nach unse­rem ruhm­ rei­chen Tri­umph gegen Leim­bach war das zwar nicht mehr nötig, aber das hat­ten Wil­li und Andre­as beim Erstel­len des Vor­be­rei­tungs­plans beim besten Wil­len nicht ahnen kön­nen. Kurz vor dem Halb­zeit­pfiff reih­te ich mich zum ersten Mal in die Liste der Tor­schüt­zen ein. Ein sat­ter Distanz­schuss nach einer abge­wehr­ten Ecke besie­ gel­te den Halb­zeit­stand von 3–0.

In der Halb­zeit­pau­se setz­ten wir uns an ein schat­ti­ges Plätz­chen am Spiel­feld­rand und stärk­ten uns mit ein paar Fla­schen Was­ser. Die Stim­mung war locker und ent­ spannt. Wir fühl­ten uns fit und gut gerü­stet für die kom­men­de Saison.

In der 2. Halb­zeit soll­te ich beim ASV Neun­dorf die selt­sam­ste Spiel­un­ter­bre­chung mei­nes Lebens erfahren.

Es ereig­ne­te sich in der 61. Spiel­mi­nu­te. Michi Mei­ster tanz­te sei­nen Gegen­spie­ler aus und setz­te zum Schuss an. Er war ein wir­kungs­vol­ler Spie­ler. Auf­grund der körper­ beton­ten Spiel­wei­se des groß­ge­wach­se­nen blon­den Angrei­fers war er für jeden Ver­tei­di­ger ein unbe­que­mer Wider­sa­cher. Trotz­dem zeig­te er zuwei­len tech­ni­sche Defi­zi­te und mach­te ganz son­der­ba­re Din­ge. So auch an die­sem Tage. Er hat­te freie Schuss­bahn, war knapp 17 Meter vom Tor ent­fernt. Doch sein Schuss flog gefühl­te 20 Meter über das Tor. Trai­ner Andre­as schüt­tel­te an der Sei­ten­li­nie fas­sungs­los den Kopf: „Manch­mal könn­te ich den Kerl an den Tor­pfo­sten klatschen!“

Der Ball segel­te mit Pau­ken und Trom­pe­ten über das hin­ter dem Tor gespann­te Fang­netz und blieb in gut 50 Metern Ent­fer­nung auf dem Hof des Nach­bar­bau­ern lie­gen. Ein klei­ner spin­del­dür­rer Bau­er in knie­ho­hen Gum­mi­stie­feln trat aus dem Stall und blick­te den Ball arg­wöh­nisch an. Mit sei­ner alt­mo­di­schen run­den Bril­le auf der Nase sah er wie eine Minia­tur­ver­si­on von Leh­rer Läm­pel aus Max und Moritz aus.

„Hal­lo Eber­hart, kannst du uns bit­te schnell den Ball rüber­wer­fen?“, frag­te der geg­ne­ri­sche Spiel­lei­ter höflich.

Mit hoch­ro­tem Kopf starr­te der Bau­er auf den Ball. Er mach­te ganz und gar nicht den Ein­druck, als woll­te er uns den Ball zuwerfen.

„Ihr Hunds­grüp­pel! Ihr dami­schen Säu­b­on­ker­ten!“, pol­ter­te er in tief­stem Frän­kisch los.

Ich ver­stand kein Wort. Es hör­te sich aber ganz und gar nicht nach einem freund­li­chen „Klar, ich werf euch euren Ball gleich zu“ an.

„Jeds mol freggn mer mei gel­ba Rum wecha eura var­regtn Fußbäll!“

„Mensch, Eber­hart, beru­hig dich doch mal!“, ver­such­te nun auch der Neun­dor­fer Trai­ner zu beschwichtigen.

„Nein, des is fei echt mei Ernst!“, schimpf­te der Bau­er Eber­hart uner­müd­lich wei­ter. „Ich hob die Schnauzn vull vo euch elen­di­gen Brunz­kü­bel euch ver­regtn! Dabdü­del seid ihr, alle zam! Ihr daabn Sefdl!“

„Komm Manu, dann holen wir den Ball eben!“

Der Tor­hü­ter des ASV Neun­dorf setz­te sich auf die resi­gnier­te Anwei­sung sei­nes Trai­ners in Bewe­gung und eil­te hin­ter das Tor. Eber­hart ver­zog sich schnau­bend zurück in sei­nen Kuh­stall. Er war das zwei­te echt frän­ki­sche Ori­gi­nal, dem ich bis­lang begeg­net war. Nach dem eigen­ar­ti­gen Erleb­nis an mei­nem ersten Tag in Wei­her­fel­den war ich heil­froh, dass dies­mal nicht ich Ziel des frän­kisch-der­ben Wut­an­falls wurde.

Noch bevor der geg­ne­ri­sche Tor­wart den Fuß­ball erreicht hat­te, kehr­te Bau­er Eber­hart mit einer Mist­ga­bel bewaff­net aus dem Stall zurück.

Der Neun­dor­fer Spiel­lei­ter unter­nahm noch einen letz­ten ver­zwei­fel­ten Ver­such, die Wogen zu glät­ten: „Eber­hart, jetzt reiß dich mal zam!“

„Halt euer Goschn alle zam!“, brüll­te Eber­hart und spieß­te kur­zer­hand mit sei­ner Mist­ga­bel den Fuß­ball auf.

„Na Bra­vo, ned schon wie­der!“, stöhn­te der generv­te Neun­dor­fer Trai­ner. „Der Kerl kostet uns noch ein Vermögen!“

„Franz, schieß mal bit­te schnell den Ersatz­ball ins Feld!“, befahl indes der Spiel­lei­ter, damit wir nach die­ser absur­den Situa­ti­on end­lich das Spiel fort­set­zen konnten.

„Der is ned da“, ant­wor­te­te der Neun­dor­fer Aus­wech­sel­spie­ler Franz. „Ich glaub, den haben wir in der Halb­zeit zurück ins Sport­heim gebracht!“

„Ver­dammt noch­mal, heut is aber echt der Wurm drin“, mur­mel­te der wüten­de Spiel­lei­ter. „Dann schau ned so wie a Ach­hörn­la wenns blitzt! Ab ins Sport­heim. Wir brau­chen einen neu­en Ball! Zack Zack!“

Und so harr­ten wir gedul­dig aus, bis der arme Ersatz­spie­ler Franz zurück ins zwei Kilo­me­ter ent­fern­te Neun­dor­fer Sport­heim gewetzt war und einen neu­en Ball auf­ge­trie­ben hatte.

Dem unge­fähr­de­ten 5–0 Erfolg folg­te ein hasti­ges Bier im Neun­dor­fer Sport­heim. Dann eil­ten wir rasch zum eigent­li­chen Haupt­er­eig­nis des Tages: dem Kamerad­ schafts­abend zum Ende der Sai­son­vor­be­rei­tung. Wir hat­ten in den ver­gan­ge­nen Wochen knüp­pel­hart trai­niert, Blut und Was­ser geschwitzt, und fühl­ten uns bereit für die schwe­ren Auf­ga­ben, die eine Sai­son in der Kreis­klas­se Nord mit sich brach­te. Jetzt war es an der Zeit zu fei­ern. Und dass wir das her­vor­ra­gend konn­ten, hat­ten wir ja schon das eine oder ande­re Mal ein­drucks­voll unter Beweis gestellt.

Auch die­ses Mal soll­te es wie­der ein spek­ta­ku­lä­rer Abend wer­den. Zunächst gab es ein zünf­ti­ges Essen. Der Dorf­metz­ger tisch­te ein knusp­ri­ges Span­fer­kel auf, das wir Neu­zu­gän­ge und Nach­wuchs­spie­ler gemein­sam als Ein­stand finan­zier­ten. Anschlie­ßend flos­sen Bier und Wein in Strömen.

Nach dem gemein­sa­men Abend waren wir selbst­ bewuss­ter als je zuvor. Das her­aus­ra­gen­de Spiel gegen Leim­bach spuk­te immer noch in unse­ren Köp­fen, und der Zusam­men­halt in der Mann­schaft war gran­di­os. Wer soll­te uns denn in der Kreis­klas­se Nord schlagen?

Doch das Abschluss­trai­ning am Don­ners­tag vor dem ersten Punkt­spiel beim SC Hohen­stein ende­te mit einem Eklat. Die Par­ty-Stim­mung des Kame­rad­schafts­abends am ver­gan­ge­nen Sams­tag war vergessen.

Die Span­nung auf dem Fuß­ball­feld war greif­bar, als Trai­ner Andre­as mit Argus­au­gen das inten­si­ve Trai­ning über­wach­te. Das erste Punkt­spiel war stets rich­tungs­wei­send. Ein guter Start in die Sai­son war unbe­zahl­bar. Der Kon­kur­renz­kampf war groß. Ein oder zwei Posi­tio­nen waren in der Vor­be­rei­tung heiß umkämpft gewe­sen. Und so strit­ten noch vier bis fünf Spie­ler um die bei­den ver­blie­be­nen Plät­ze in der Start­elf. Nie­mand woll­te das wich­ti­ge erste Sai­son­spiel auf der Bank verbringen.

Auch bei Andre­as Diet­ner lagen die Ner­ven blank. Nach dem Warm­lau­fen ord­ne­te unser Trai­ner selbst­ stän­di­ges Deh­nen an. Bis sein uner­bitt­li­cher Blick Bernd Hagen traf.

„Bernd! Was machst du da?“, pol­ter­te Andre­as barsch.

„Ich deh­ne mich“, ant­wor­te­te der über­rasch­te Bernd, der nicht so recht wuss­te, was er falsch gemacht haben sollte.

„Ich lass mich von dir doch nicht ver­ar­schen!“, brüll­te Andre­as außer sich vor Wut.

„Soll ich eine ande­re Dehn­übung machen?“, bot Bernd unsi­cher an.

„Du spielst seit dei­nem sech­sten Lebens­jahr Fuß­ball. Du willst mir doch ned erzäh­len, dass du mit den Fin­ger­spit­zen ned wei­ter als bis zu dei­nen Knien kommst!“

„Trai­ner, du weißt doch, dass ich nicht der Schnell­ste und Gelen­kig­ste bin“, fleh­te der ver­dutz­te Bernd, der sich bereits erste Sor­gen um sei­nen sicher­ge­glaub­ten Stamm­ platz machte.

„Du bist ein guter Tech­ni­ker, des­we­gen akzep­tie­re ich es auch, dass du bei einem 100-Meter-Lauf noch an der Mit­tel­li­nie rum­düm­pelst, wenn die ande­ren schon fer­tig sind. Aber ich lass mich doch nicht von dir zum Nar­ren hal­ten! So unge­len­kig kann doch kein Mensch sein! Los jetzt, Fin­ger­spit­zen zum Boden, oder es setzt was!“

Aber so sehr sich Bernd auch mit hoch­ro­tem Kopf anstreng­te, es woll­te ihm ein­fach nicht gelin­gen. Sprin­ten und Deh­nen war wirk­lich nicht sei­ne Welt.

„Mir reicht es jetzt! Geh duschen!“

Bernd woll­te noch lamen­tie­ren, aber ein Blick in das unbeug­sa­me, zor­nes­ro­te Gesicht sei­nes Trai­ners belehr­te ihn eines Bes­se­ren. Zäh­ne­knir­schend mach­te er sich auf den Weg in die Um­ klei­de­ka­bi­ne und ging früh­zei­tig unter die Dusche. Unser Trai­ning wur­de nach dem Vor­fall noch inten­si­ver. Jeder wuss­te nun um Andre­as vul­kan­ar­ti­ges Gemüt. Nie­mand woll­te vor dem ersten Punkt­spiel einen Feh­ler machen.

In der anschlie­ßen­den Spie­ler­sit­zung stell­te uns Andre­as Diet­ner best­mög­lich auf den näch­sten Geg­ner ein. Der SC Hohen­stein war kein Unbe­kann­ter. Es rank­ten sich diver­se Legen­den um die Duel­le gegen die­se Mann­ schaft, die ich natür­lich nicht ernst neh­men konn­te. Ver­mut­lich ver­such­te unser Trai­ner ledig­lich, sein vor Selbst­be­wusst­sein strot­zen­des Team auf den Boden der Tat­sa­chen zurück­zu­ho­len, ehe uns die Über­heb­lich­keit noch einen Strich durch die ersten drei Sai­son­punk­te machte.

Titel: Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreisklasse

Ama­teur-Fuß­bal­ler Mar­co Tan­ner muss sich als “Zuge­rei­ster“ in die def­ti­ge frän­ki­sche Lebens­wei­se ein­fin­den, um bei sei­nem skur­ri­len neu­en Fuß­ball­ver­ein Fuß zu fassen.

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