„Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreis­klas­se“, Kapi­tel 6

"Sonntagsschüsse" Buchcover

„Sonn­tags­schüs­se“ Buchcover

TSV Wei­her­fel­den – 1. FC Leim­bach (Pokal­spiel)

Es gibt Tage im Leben eines Fuß­bal­lers, an denen nichts gelin­gen mag, an denen selbst der beste Tech­ni­ker die ein­fach­sten Bäl­le nicht stop­pen kann, an denen man stets zum fal­schen Zeit­punkt am fal­schen Ort steht. Und dann gibt es Tage, an denen ein­fach alles funk­tio­niert, an denen Tricks klap­pen, bei deren Ver­such man sich an ande­ren Tagen die Füße bricht, an denen man Zwei­kämp­fe gewinnt, denen man anson­sten resi­gnie­rend aus dem Weg geht. Manch­mal, nur äußerst sel­ten, gibt es schließ­lich Spie­le, an denen die kom­plet­te Mann­schaft einen die­ser Tage erwischt, wenn die gan­ze Mann­schaft der­art über sich hin­aus­wächst, dass kein Geg­ner zu stark, kei­ne Hür­de zu groß ist.

Das Pokal­spiel gegen den 1. FC Leim­bach am Don­ners­tag nach dem Trai­nings­la­ger war unser erstes rich­tig gro­ßes Spiel in der noch jun­gen Sai­son. Die „Leim­ba­cher Geld­säcke“, wie Spiel­lei­ter Wil­li sie zäh­ne­flet­schend nann­te, spiel­ten Bezirks­li­ga und gin­gen zwei Klas­sen über uns als abso­lu­te Top­fa­vo­ri­ten ins Ren­nen. Wir wuss­ten alle, dass der Geg­ner eine Num­mer zu groß für uns war, aber das tat unse­rer Moti­va­ti­on kei­nen Abbruch. Wir woll­ten es dem Favo­ri­ten zei­gen und ihm so lan­ge wie mög­lich einen har­ten Kampf liefern.

Noch vor vier Jah­ren war der 1. FC Leim­bach eine Liga unter dem TSV Wei­her­fel­den auf Tore­jagd gegan­gen. Mit dem Auf­stieg in die Kreis­klas­se hat­ten die Leim­ba­cher dann einen mäch­ti­gen Spon­sor gewon­nen. Ein fuß­ball­ver­rück­ter orts­an­säs­si­ger Fir­men­be­sit­zer inve­stier­te urplötz­lich Tau­sen­de Euro in die spru­del­ten Kas­sen des Ver­eins. Und für gutes Geld wur­den Spie­ler ver­pflich­tet, die das Wort Kreis­klas­se anson­sten nur aus dem Lokal­teil der Tages­zei­tung kann­ten. Gestan­de­ne Bezirks­ober­li­ga­ve­te­ra­nen aus dem Umkreis bil­de­ten das Grund­ge­rüst des neu­en Teams. Letz­ten Endes gelang den Ver­ant­wort­li­chen mit dem Sen­sa­ti­ons­trans­fer von zwei Stamm­spie­lern aus der Bay­ern­li­ga­mann­schaft des FC Blau-Weiß Forch­heim der spek­ta­ku­lä­re Höhe­punkt der vie­len Neu­ver­pflich­tun­gen. Da war es kaum ver­wun­der­lich, dass die­ses zusam­men­ge­kauf­te Star­ensem­ble inner­halb von zwei Jah­ren den Durch­marsch in die Bezirks­li­ga voll­brach­te und die­se Sai­son als Favo­rit für den Auf­stieg in die Bezirks­ober­li­ga gehan­delt wurde.

Und in all dem blen­den­den Glanz die­ses eupho­ri­schen Ritts auf einer Woge des Erfolgs ver­lo­ren die­se neu­rei­chen Ver­ei­ne in der Regel schnell den Blick für die Rea­li­tät. Denn je höher man klet­tert, desto tie­fer ist der Fall. Und den erleb­ten frü­her oder spä­ter alle Ver­ei­ne, die auf die­se Wei­se im Eil­tem­po durch die Ama­teur­klas­sen marschieren.

Die größ­ten Pro­ble­me waren ihre Abhän­gig­keit von dem finanz­star­ken Gön­ner und die struk­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen, die ein solch rascher Auf­stieg mit sich brach­te. Irgend­wann kam der trä­nen­rei­che Tag, an dem der Spon­sor die ergie­bi­ge Finanz­quel­le ver­sie­gen ließ. Die Grün­de dafür waren viel­fäl­tig: Ein Streit mit der Ver­eins­füh­rung, da sich der Spon­sor immer mehr in die Ver­eins­ge­schäf­te ein­misch­te, die Plei­te des Unter­neh­mens, die Fokus­sie­rung auf ein neu­es Hob­by – die Kon­se­quenz war immer die­sel­be. Die für teu­res Geld ein­ge­kauf­ten Legio­nä­re ver­lie­ßen das sin­ken­de Schiff. Schließ­lich hat­ten sie das Poten­zi­al, auch eini­ge Klas­sen höher zu spie­len, und waren ledig­lich wegen des monat­li­chen Taschen­gelds in Dien­sten des auf­stre­ben­den Ver­eins. Zu die­sem Zeit­punkt waren die Talen­te aus der eige­nen Jugend schon lan­ge weg. Fru­striert über die Per­spek­tiv­lo­sig­keit in ihrem Hei­mat­ver­ein, in dem das gesam­te Umfeld nur noch von den teu­ren Geld­fuß­bal­lern schwärm­te und die Eigen­ge­wäch­se kon­se­quent links lie­gen gelas­sen wur­den, hat­ten sie dem Ver­ein auf des­sen sport­li­chem Höhe­punkt den Rücken gekehrt. Zurück bleibt ein see­len­lo­ser Ver­ein, der in einem Wahn­sinns­tem­po wie­der zurück in die A‑Klasse rauscht und selbst dort kei­nen Fuß mehr auf den Boden bekommt.

Der TSV Wei­her­fel­den war das genaue Gegen­teil zu die­sem Kurz­zeit­erfolgs­kon­zept. Bei­na­he alle Spie­ler der Her­ren­mann­schaft kann­ten sich von Kin­des­bei­nen an. Bis auf zuge­rei­ste Neu­zu­gän­ge wie Ste­fan oder mich, bestand die gesam­te Mann­schaft aus Spie­lern, die bereits in der Jugend die Fuß­ball­schu­he für den TSV geschnürt hat­ten. Selbst wenn ein Aus­flug in die Bezirks­ober­li­ga unter die­sen Rah­men­be­din­gun­gen für ein klei­nes Dorf wie Wei­her­fel­den uto­pisch war, war es den­noch ein grund­so­li­des und lang­fri­stig aus­ge­leg­tes Kon­zept, das mir per­sön­lich tau­send­mal lie­ber war, als ein Ver­ein, der eini­ge Jah­re lang über sei­nen Ver­hält­nis­sen auf einer kurz­sich­ti­gen Erfolgs­wel­le ritt.

Für die Spie­ler des TSV war der 1. FC Leim­bach das Feind­bild schlechthin.

„Ein Hau­fen Geld­fuß­bal­ler ohne See­le und Inte­gri­tät!“, schimpf­te unser Trai­ner am Abend vor dem Spiel am Stamm­tisch des Sport­heims. „Wenn sie nicht so stark wären, wür­den wir es ihnen zei­gen. Kampf­los wer­den wir uns denen nicht ergeben!“

Beson­ders die bei­den ehe­ma­li­gen Bay­ern­li­ga­spie­ler brach­ten ganz Wei­her­fel­den in Rage.

„Nie­mand hat etwas dage­gen, wenn ein rich­tig guter Spie­ler sein Glück in den höhe­ren Spiel­klas­sen ver­sucht. Aber wenn ein Stamm­spie­ler im besten Fuß­bal­ler­al­ter von der Bay­ern­li­ga in die Kreis­klas­se wech­selt, nur weil er dort 50 Euro mehr im Monat bekommt, dann gehört er an sei­nen Schnür­sen­keln an der Tor­lat­te auf­ge­knüpft!“, schimpf­te Wirt­schafts­füh­rer Don, der sogar den Zahn­sto­cher aus dem Mund nahm, um sei­nem Ärger Luft zu machen.

Als wir uns am spä­ten Nach­mit­tag um 17.30 Uhr vor dem Sport­heim tra­fen, waren wir heiß auf das Duell gegen den unge­lieb­ten über­mäch­ti­gen Geg­ner. Die Span­nung in der Kabi­ne war greif­bar. Mei­ne Mit­spie­ler kann­ten die Namen der geg­ne­ri­schen Stars. Ale­no, der wen­di­ge Stür­mer, der in der Bezirks­li­ga mit 35 Tref­fern Tor­schüt­zen­kö­nig gewor­den war. Bay­er, der noch vor weni­gen Jah­ren in der Bay­ern­li­ga im Mit­tel­feld die Fäden gezo­gen hat­te. Chri­sti­an Stark im defen­si­ven Mit­tel­feld war bei den Offen­siv­kräf­ten gefürch­tet. Er galt als rusti­ka­ler Spie­ler, der kei­nem noch so har­ten Zwei­kampf aus dem Weg ging.

Als ich die Trep­pen hin­auf­stieg, um mich auf dem Trai­nings­platz auf­zu­wär­men, bück­te ich mich noch kurz, um mei­ne Schu­he zuzu­bin­den. Drei Leim­ba­cher Spie­ler lie­fen an mir vorbei.

„Schau mal“, rief ein gro­ßer dun­kel­haa­ri­ger Spie­ler Anfang Drei­ßig und nick­te lachend mit dem Kopf in mei­ne Rich­tung. „Anschei­nend haben sie heu­te ihre Jugend­mann­schaft für eine Lehr­stun­de auf den Platz geschickt.“

Mit einem fin­ste­ren Blick präg­te ich mir das Gesicht des arro­gan­ten Gegen­spie­lers ein. Wir wer­den uns schon auf dem Spiel­feld begegnen!

Zehn Minu­ten vor dem Spiel zogen wir uns nach dem gemein­sa­men Auf­wär­men in die Kabi­ne zurück. Trai­ner Andre­as gab uns letz­te Instruktionen.

„Domi­nik, du nimmst dir den Ale­no vor. Er mag es nicht, wenn man ihn hart attackiert. Steh ihm auf den Füßen, gib ihm ab und an mal einen mit. Wenn wir ihn ins Spiel kom­men las­sen, ist er nicht mehr zu stop­pen. Aber kei­ne über­har­ten Fouls! In Unter­zahl gehen wir heu­te unter. Den Bay­er über­nimmt Mar­co. Das ist der Schlüs­sel­spie­ler. Über den läuft jeder Angriff. Er darf sich nicht dre­hen. Du musst ihm den Schneid abkau­fen. Harald soll dich absi­chern. Wenn wir ihn nicht unter Kon­trol­le brin­gen, müs­sen wir ihn dop­peln. Also Jungs, raus jetzt. Macht die­sen ver­damm­ten Geld­säcken die Höl­le heiß!“

Die vie­len Erzäh­lun­gen von den über­ra­gen­den fuß­bal­le­ri­schen Fähig­kei­ten mei­nes Gegen­spie­lers hät­ten mich eigent­lich beun­ru­hi­gen sol­len. Aber statt­des­sen brann­te ich vor Ehr­geiz. Ich hat­te rich­tig Lust, den Geld­säcken in den Hin­tern zu tre­ten. Voll­ge­pumpt mit Adre­na­lin betrat ich den Platz. Es war herr­li­ches Wet­ter, ein son­ni­ger, war­mer Som­mer­abend. Ich sog den Duft des grü­nen Rasens in mei­ne Nase ein. Auf den Zuschau­er­rän­gen tum­mel­te sich alles, was in Wei­her­fel­den Rang und Namen hatte.

Mein Blick fiel auf mei­nen arro­gan­ten Leim­ba­cher Freund vom Auf­wär­men. Er wirk­te ent­spannt und selbst­si­cher… und trug die Rücken­num­mer 10. Bay­er! Mei­ne Moti­va­ti­on kann­te nun kei­ne Gren­zen mehr. Jugend­spie­ler? Dir wer­de ich es zeigen!

Wir erwisch­ten star­ke erste zehn Minu­ten. Gegen eine tech­nisch haus­hoch über­le­ge­ne Mann­schaft half wie immer nur eins: Das Spiel muss­te ein Kampf wer­den, in dem wir dem Geg­ner mit hart geführ­ten Zwei­kämp­fen und hoher Lauf­be­reit­schaft die Lust am Fuß­ball ver­dar­ben. Ver­tei­di­ger Domi­nik Prien zele­brier­te die­se Marsch­rou­te förm­lich. Nach­dem er Ale­no bei des­sen ersten Ball­kon­takt rusti­kal von den Füßen gefegt hat­te, setz­te er die näch­ste wir­kungs­vol­le Duft­mar­ke mit einem sehr kör­per­be­ton­ten Kopf­ball­du­ell. Fru­striert über den Schieds­rich­ter schimp­fend, ließ sich Ale­no an der Sei­ten­li­nie behandeln.

Von so einem Start konn­te ich nur träu­men. Bay­er bewies aus­ge­zeich­ne­te Über­sicht, als er mir mit sei­ner ersten Ball­be­rüh­rung gekonnt den Ball durch die Bei­ne spit­zel­te. Ich hat­te die Wen­dig­keit des groß­ge­wach­se­nen und deut­lich älte­ren Spie­lers völ­lig unter­schätzt. Bay­er war agil und lauf­freu­dig, und sei­ne Mit­spie­ler such­ten ihn bei jedem Angriff des 1. FC Leim­bach. Mei­ne zwei­te Bewäh­rungs­pro­be woll­te ich nicht noch ein­mal ver­pat­zen. Bay­er nahm den Ball mit der Außen­sei­te mit, erkann­te aus dem Augen­win­kel, wie ich mich posi­tio­niert hat­te, und zog rasch mit sei­ner lin­ken Fuß­soh­le den Ball außer Reich­wei­te. Doch damit hat­te ich gerech­net. Dies­mal hat­te Bay­er offen­bar den „Jugend­spie­ler“ unter­schätzt. Flink und mit einer gesun­den Por­ti­on Kör­per­ein­satz attackier­te ich Bay­er von der ande­ren Sei­te und spit­zel­te den Ball mit einer lang­bei­ni­gen Grät­sche zu Harald Gepard. Unser Kapi­tän schal­te­te schnell und spiel­te den Ball in die Spit­ze zu Micha­el Mei­ster. Leim­bach war weit auf­ge­rückt, hat­te den Ball bei ihrem Spiel­ma­cher Bay­er in siche­ren Hän­den geglaubt. Micha­el nutz­te die resul­tie­ren­den Frei­räu­me in der Leim­ba­cher Deckung eis­kalt aus. Ein geziel­ter Schuss ins unte­re Tor­eck, und der kras­se Außen­sei­ter TSV Wei­her­fel­den führ­te mit 1–0.

Wäh­rend mei­ne Mit­spie­ler sich jubelnd in den Armen lagen, schritt ich mit stolz­ge­schwell­ter Brust am ver­är­ger­ten Bay­er vor­bei und mur­mel­te mit einem höh­ni­schen Lächeln auf den Lip­pen ein wohl­tu­en­des „Tja, der Jugendspieler!“

Fru­striert biss sich Bay­er auf die Unter­lip­pe. Er wuss­te genau, was ich ihm damit sagen woll­te. Als ich Bay­er auch bei sei­nen näch­sten bei­den Ball­kon­tak­ten durch­set­zungs­stark in die Para­de gefah­ren war, wuss­te ich, dass ich den hoch­ge­lob­ten Mit­tel­feld­spie­ler gebro­chen hat­te. Es war mein Tag, und er war zu sehr mit sich selbst beschäf­tigt, um mir wei­ter Kon­tra zu geben, wäh­rend ich mit jedem gewon­ne­nen Zwei­kampf stär­ker und selbst­be­wuss­ter wurde.

An die­sem Tage gab es für den 1. FC Leim­bach nichts zu holen. Alle elf Wei­her­fel­de­ner Spie­ler zer­ris­sen sich auf dem Spiel­feld bis zum Umfal­len. Enga­giert und nis­sig ver­tei­dig­ten wir unser Tor. Und mit jeder ver­stri­che­nen Minu­te mach­ten die Stars um Bay­er und Ale­no laut­stär­ker ihrem Unmut Luft.

„Das gibt´s doch nicht! Schau dir mal dei­nen Gegen­spie­ler an! Der kann doch nicht mal einen Ball stop­pen!“, fauch­te Bay­er den gefru­ste­ten Ale­no an.

„Schau du lie­ber, dass du gegen die­sen Jung­spund mal einen Zwei­kampf gewinnst!“, gif­te­te Stark in Rich­tung mei­nes Gegenspielers.

Und mit dem Frust der Stars der regio­na­len Ama­teur­fuß­bal­ler­sze­ne häuf­ten sich die Kurz­schluss­re­ak­tio­nen. Mit einer gesun­den Por­ti­on Kör­per­ein­satz erkämpf­te ich mir einen wei­te­ren Ball vom chan­cen­lo­sen Leim­ba­cher Spiel­ma­cher und setz­te sofort zum Kon­ter an, was Bay­er mit einem trot­zi­gen Fuß­tritt in mei­ne Wade unterband.

Plötz­lich zeig­te Spiel­lei­ter Wil­li eine völ­lig neue Sei­te von sich. Wild gesti­ku­lie­rend sprang er von der Aus­wech­sel­bank auf und stürm­te mit wut­ver­zerr­tem Gesicht an die Sei­ten­li­nie: „So eine elen­de Dreck­sau! Rot! Schieds­rich­ter! Rote Kar­te! Wor­auf war­test du? So ein hin­ter­li­sti­ger Hund! Der gehört vom Platz! Vom Platz gehört der! Was soll das?“

Der Schieds­rich­ter zeig­te Bay­er die gel­be Kar­te und ermahn­te ihn, dass er bei der näch­sten unfai­ren Akti­on das Feld ver­las­sen müs­se. Bay­er nahm die Ver­war­nung recht emo­ti­ons­los hin. Es waren nur noch 15 Minu­ten zu spielen.

Wäh­rend wir Spie­ler uns wei­ter auf dem Platz die See­le aus dem Leib rann­ten, zeig­te Spiel­lei­ter Wil­li am Spiel­feld­rand min­de­stens genau so viel Ein­satz. Er ließ sich in sei­ner hit­zi­gen Rage von nichts und nie­man­dem beru­hi­gen. Als die wüten­den Zwi­schen­ru­fe immer tie­fer unter die Gür­tel­li­nie gin­gen, ent­flamm­te Wil­li letzt­lich auch die Gemü­ter der mit­ge­rei­sten Leim­ba­cher Fans. Mit hoch­ro­tem Kopf stand Wil­li Drei von ihnen gegen­über und brüll­te ihnen furcht­los ins Gesicht, was für ein „ekel­haf­ter Hau­fen von Geld­säcken“ sie doch waren.

„Mei­ne Güte, hat er sogar Schaum vor dem Mund?“, frag­te ich den neben mir auf einen geg­ne­ri­schen Ein­wurf war­ten­den Harald Gepard.

„Nor­mal­zu­stand!“, kom­men­tier­te unser Kapi­tän knapp. „Wenn ihn die Taran­tel ein­mal gesto­chen hat, kennt er kein Hal­ten mehr!“

Tob­suchts­an­fäl­le am Fuß­ball­platz waren nicht unge­wöhn­lich. Wut­ent­brann­te Fana­ti­ker mit Tun­nel­blick waren auf allen Fuß­ball­plät­zen die­ser Erde zu Hau­se. Trotz­dem muss­te ich zuge­ben, dass Wil­li ein ganz beson­ders eif­ri­ges Exem­plar war. Es waren oft die im Pri­vat­le­ben ruhig­sten, beson­nen­sten Män­ner, die an der Sei­ten­li­nie am mei­sten außer Rand und Band gerie­ten. Es gelang ihnen per­fekt, kon­se­quent ihre beschwich­ti­gen­de Umwelt aus­zu­blen­den und sich ihren minu­ten­lan­gen cho­le­ri­schen Exzes­sen hin­zu­ge­ben. Eine ande­re Gat­tung fuß­ball­ver­rück­ter Män­ner konn­te sich wie­der­um so voll­kom­men in ein Spiel ver­tie­fen, dass sie um sich her­um nichts mehr wahr­nah­men. Die größ­ten Pan­tof­fel­hel­den igno­rier­ten mit einem Mal jedes Wort ihrer domi­nan­ten Ehe­frau, und die auf­merk­sam­sten Väter reagier­ten nicht auf die Fra­gen ihrer gelieb­ten Kin­der. Das war Fuß­ball! Das war das Pokal­fie­ber, das uns alle an die­sem Tage gegen den 1. FC Leim­bach ange­steckt hatte!

Nach dem Spiel fühl­ten wir uns wie Hel­den. Begei­ster­te Zuschau­er applau­dier­ten unse­rer kampf­star­ken Trup­pe auf dem Weg in den Kabi­nen­gang. Ein roter Tep­pich mit don­nern­dem Blitz­licht­ge­wit­ter hät­te sich nicht spek­ta­ku­lä­rer anfüh­len kön­nen. Durch einen lehr­buch­haf­ten Kon­ter in den Schluss­mi­nu­ten hat­ten wir den gro­ßen Favo­ri­ten mit 2–0 in die Knie gezwun­gen. Ent­täusch­te Leim­ba­cher schli­chen schnel­len Schrit­tes an uns vor­bei und ver­schwan­den zer­knirscht im Kabi­nen­gang. Der Augen­blick, als der völ­lig gefru­ste­te Bay­er sei­ne Fuß­ball­schu­he die Trep­pe hin­ab feu­er­te, war mein per­sön­li­cher Höhe­punkt des Tages. Es fühl­te sich so gut an!

Die Spie­ler des 1. FC Leim­bach lie­ßen sich nach dem Spiel nicht in unse­rem Sport­heim blicken. So groß die Ent­täu­schung auch war, ein Bier im Sport­heim des Gast­ge­bers war im Ama­teur­fuß­ball Pflicht. Sol­che Aktio­nen mach­ten die Geld­fuß­bal­ler nicht sympathischer.

Dafür blieb das ver­zau­ber­te Publi­kum umso län­ger. Unse­re Zuschau­er waren voll des Lobes.

„Habt ihr gese­hen, wie der Bay­er sei­ne Fuß­ball­schu­he weg­ge­wor­fen hat? Am lieb­sten hät­te er sie heu­te an den Nagel gehängt.“

„Die­ser Neue, der Mar­co Tan­ner, hat ihn aber auch ganz schön bear­bei­tet. Klas­se, der Jun­ge! Eine ech­te Bereicherung!“

„Und auf den Mei­sters Michi kön­nen wir im Sturm ja sowie­so zählen!“

„Wie der Klaus in sei­nem Alter noch die Abwehr dirigiert!“

„Der Harald ist heu­te bestimmt wie­der einen gan­zen Mara­thon gelaufen!“

„Was der Stie­ler alles gehal­ten hat!“

„Heu­te haben die Jungs auf­ge­spielt wie wir früher!“

Auf­ge­heizt durch den über­schwäng­li­chen Lob­preis unse­rer treu­en Fans, stie­ßen wir Spie­ler ein ums ande­re Mal auf den Über­ra­schungs­er­folg an. Das Bier floss in Strö­men, und ich ver­schwen­de­te kei­nen Gedan­ken dar­an, dass am näch­sten Mor­gen mein erster Arbeits­tag als Zivi auf mich war­te­te. Mor­gen war mor­gen! Was kostet die Welt!

„Schon schwach von den Leim­ba­chern, dass sie nicht mal die Grö­ße haben, bei uns im Sport­heim noch ein Bier zu trin­ken!“, schimpf­te Micha­el Mei­ster und nahm einen gro­ßen Schluck aus sei­nem Glas.

Domi­nik Prien, ein­mal mehr die Emo­ti­ons­lo­sig­keit in Per­son, zuck­te gelas­sen mit den Schul­tern: „Mir eigent­lich egal, was die machen. Mein Bier schmeckt, wir sind im Pokal eine Run­de wei­ter. Lasst uns ein­fach noch eins trinken.“

Der jun­ge Nach­wuchs­ver­tei­di­ger Mar­tin Kru­se, der eben­falls ein bären­star­kes Spiel abge­lie­fert hat­te, feg­te mit flin­ken Fin­gern über den Bild­schirm sei­nes Smart­phones. „Wenn sie nicht zu uns kom­men wol­len, dann kom­men wir eben zu ihnen“, sag­te er schließ­lich mit dia­bo­li­schem Grin­sen. „Heu­te ist Rock in the City in Forch­heim. Und im Blue Bear spielt eine echt gute Band.“

„Im Blue Bear? Ist das nicht die Ver­eins­knei­pe des 1. FC Leimbach?“

„Genau! Gut erkannt!“

Kur­zer­hand hat­ten wir ein­stim­mig beschlos­sen, mit der kom­plet­ten Mann­schaft in unse­ren Trai­nings­an­zü­gen auf Rock in the City zu gehen. Mit brei­ter Brust stol­zier­ten wir in den blau-gel­ben Far­ben unse­res Ver­eins durch die Fuß­gän­ger­zo­ne. Wir san­gen, johl­ten, lagen uns in den Armen. Die Jungs des TSV Wei­her­fel­den fühl­ten sich unbesiegbar.

Und so war es nur eine Fra­ge der Zeit, bis wir letz­ten Endes in der Bar Blue Bear lan­de­ten, die vom 2. Vor­sit­zen­den des riva­li­sier­ten Ver­eins betrie­ben wur­de und somit zur Ver­eins­knei­pe des 1. FC aus­er­ko­ren war. Die Band spiel­te eine erst­klas­si­ge Mischung aus 80er-Jah­re-Rock und kul­ti­gen Bal­la­den. Selbst­be­wusst dräng­ten wir uns durch die Men­schen­mas­sen der prop­pen­vol­len Knei­pe und steu­er­ten ziel­si­cher auf die Bar zu. Von dort soll­te uns nie­mand mehr ver­drän­gen. Abwech­selnd spen­dier­ten wir eine Run­de nach der ande­ren. Ich weiß nicht mehr genau, wie es pas­siert war, aber irgend­wann zwi­schen Wod­ka, Whis­key und kla­ren Schnäp­sen war jemand auf die glor­rei­che Idee gekom­men, die Trai­nings­jacken und T‑Shirts mit dem Emblem des TSV Wei­her­fel­den abzu­le­gen, damit wir unse­re stolz­ge­schwell­ten Hüh­ner­brü­ste bes­ser zur Schau stel­len konn­ten. So stan­den wir mit nack­ten Ober­kör­pern da und stürz­ten ein hoch­pro­zen­ti­ges Getränk nach dem ande­ren unse­re dur­sti­gen Keh­len hinab.

Plötz­lich war­te­te ein groß­ge­wach­se­ner dun­kel­haa­ri­ger Mann Anfang Drei­ßig neben mir auf sein Pils, das gera­de von der Bar­da­me ein­ge­schenkt wur­de. Bei­na­he hät­te ich ihn in Hemd und Jeans nicht erkannt. Aber sein miss­mu­ti­ger Gesichts­aus­druck bestä­tig­te die Ver­mu­tung, dass es sich um mei­nen guten alten Freund Bay­er han­del­te. Nie­der­ge­schla­gen zog er an sei­ner glim­men­den Ziga­ret­te und sah gedan­ken­ver­lo­ren dabei zu, wie sich sein Glas mit schäu­men­dem Bier füllte.

„Schon blöd, wenn man von einem Jugend­spie­ler deklas­siert wird, oder?“, lall­te ich in einem Anfall pro­vo­kan­ter Selbstherrlichkeit.

Mit hoch­ge­zo­ge­nen Augen­brau­en muster­te mich Bay­er von oben bis unten: „Wer bist du denn überhaupt?“

„Der Spie­ler, gegen den du heu­te kei­nen Zwei­kampf gewon­nen hast“, ant­wor­te­te ich prompt.

Bay­er seufz­te, geneh­mig­te sich einen gro­ßen Schluck von sei­nem frisch ein­ge­schenk­ten Bier und schüt­tel­te genervt den Kopf: „Lass dir erst mal Haa­re auf der Brust wach­sen, bevor du so mit einem gestan­de­nen Fuß­bal­ler wie mir sprichst.“

Die stei­gen­den Pro­mil­le ver­lie­hen mei­ner Krea­ti­vi­tät Flü­gel. „Auf Stahl wach­sen kei­ne Haa­re!“, erwi­der­te ich mit berausch­tem Grin­sen. Mein sie­ges­trun­ke­ner Über­mut kann­te kei­ne Gren­zen mehr. Ich fühl­te mich unbe­sieg­bar, und das woll­te ich die­sem selbst­ge­fäl­li­gen Möch­te­gern-Super­star bewei­sen. Mit einer raschen Hand­be­we­gung schnapp­te ich mir Bay­ers glü­hen­de Ziga­ret­te, begut­ach­te­te den Glimm­stän­gel ein letz­tes Mal, und drück­te ihn dann auf mei­ner blan­ken Brust aus.

Bay­er schüt­tel­te nur fas­sungs­los den Kopf, krall­te sich sein Bier und ver­schwand flucht­ar­tig in der Men­ge. Mei­ne pru­sten­den Kol­le­gen konn­ten sich vor Lachen nicht mehr hal­ten. Niklas Din­ger klopf­te mir stolz auf die Schul­ter und spen­dier­te mir umge­hend einen Jäger­mei­ster: „Mar­co, Mar­co. Wir haben echt einen guten Ein­fluss auf dich. Du bist ja ne rich­tig coo­le Sau!“

Titel: Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreisklasse

Ama­teur-Fuß­bal­ler Mar­co Tan­ner muss sich als “Zuge­rei­ster“ in die def­ti­ge frän­ki­sche Lebens­wei­se ein­fin­den, um bei sei­nem skur­ri­len neu­en Fuß­ball­ver­ein Fuß zu fassen.

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