„Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreis­klas­se“, Kapi­tel 2

"Sonntagsschüsse" Buchcover

„Sonn­tags­schüs­se“ Buchcover

TSC Hers­berg – TSV Wei­her­fel­den (Vor­be­rei­tungs­spiel)

Nach­dem in der ersten Vor­be­rei­tungs­wo­che mehr Wert auf gegen­sei­ti­ges Ken­nen­ler­nen gelegt wor­den war, zog unser Trai­ner in der zwei­ten Woche das Tem­po gewal­tig an. Ich war anstren­gen­des Trai­ning gewohnt, aber trotz­dem über­rasch­te mich der Ehr­geiz, mit der eine Krei­s­klas­sen­-Mann­schaft in der Vor­be­rei­tungs­zeit zu Wer­ke ging. Drei har­te Trai­nings­ein­hei­ten pro Woche und ein bis zwei Vor­be­rei­tungs­spie­le stan­den auf dem Trai­nings­plan. Kein ein­fa­ches Pro­gramm für vie­le Spie­ler, die den gan­zen Tag als Mau­rer, Dach­decker oder Flie­sen­le­ger schwe­re kör­per­li­che Arbeit ver­rich­te­ten. Ich hat­te mir die Kreis­klas­se gemüt­li­cher vor­ge­stellt. Aber in der Mann­schaft brann­te ein unbän­di­ger patrio­ti­scher Wil­le, sich zu quä­len, um dem Hei­mat­ver­ein TSV Wei­her­fel­den vie­le Punk­te zu bescheren.

Am Mon­tag der zwei­ten Woche stand sogleich ein ein­stündiger Wald­lauf auf dem Programm.

„Grund­la­gen­kon­di­ti­on auf­bau­en!“, mein­te der Trainer.

Kon­di­ti­on soll­te nicht die ein­zi­ge wich­ti­ge Grund­la­ge sein, die ich in die­ser Trai­nings­ein­heit lernte.

Die Trai­nings­be­tei­li­gung war hoch. 23 Spie­ler stan­den um den Mit­tel­kreis, als unser Trai­ner die Rou­te für den ersten Wald­lauf der Sai­son erklärte.

„Lauft zuerst vom Sport­platz in Rich­tung Was­ser­bas­sin. Dann eine Schlei­fe um die Fest­wie­se, nehmt den Anstieg beim Ruh­weg mit und joggt über die Schlit­ten­bahn zum Bir­ken­stein­weg. Dort lauft ihr dann einen Bogen um den Wert­stoff­hof und kommt zurück zum Sport­platz. Das soll­ten etwa 12 Kilo­me­ter sein. Ich er­warte Zei­ten unter einer Stunde!“

Alles klar, über­leg­te ich zer­streut. Abge­se­hen davon, dass mir kei­ner der genann­ten Orte auch nur im Ent­fern­te­sten etwas sag­te, fand ich eine Stun­de für 12 Kilo­me­ter recht ambi­tio­niert. Spie­le ich Ama­teur­fuß­ball in der Kreis­klas­se, oder bin ver­se­hent­lich einer Interes­sengemeinschaft fuß­ball­in­ter­es­sier­ter Leicht­ath­le­ten bei­getreten? Aber Jam­mern und Zetern half uns nicht wei­ter. Ich war neu hier, und wie im gesam­ten Leben zähl­te auch beim Fuß­ball der erste Ein­druck. Wenn der Trai­ner eine Zeit unter einer Stun­de erwar­te­te, dann muss­te er sie be­kommen. Schließ­lich woll­te ich mir beim TSV Weiher­felden schnell einen Namen machen. Das soll­te mir mit die­sem Wald­lauf zwei­fel­los gelingen.

Die Mann­schaft setz­te sich in Bewe­gung, ein Pulk tra­ben­der Trai­nings­an­zü­ge in Blau-Gelb. Die mei­sten Spie­ler kann­ten sich unter­ein­an­der. Bald hat­ten sich Grup­pen mit ähn­lich star­ken Läu­fern gebil­det. Unser Kapi­tän Harald Gepard war zum Bei­spiel an vor­der­ster Front dabei. Sie nann­ten ihn „die Pfer­de­lun­ge“, und das hohe Tem­po, das er gleich zu Beginn vor­leg­te, mach­te sei­nem Ruf alle Ehre.

Ich befand mich im vor­de­ren Mit­tel­feld. Schnell hat­te ich ein Lauf­paar mit dem ande­ren Neu­zu­gang, Ste­fan Schmidt, gebil­det. Er lief in etwa mein Tem­po, und in einem Kader, in dem jeder jeden von Kin­des­bei­nen an kann­te, war es nahe­lie­gend, dass sich die bei­den Neu­en zusam­men­rot­te­ten, bis sie einen Zugang zum Rest der Mann­schaft gefun­den hat­ten. Ste­fan war sechs Jah­re älter als ich. Er hat­te kürz­lich sein Staats­examen als Leh­rer bestan­den. Dar­auf­hin hat­te ihn das baye­ri­sche Kultus­ministerium von Strau­bing nach Forch­heim ver­setzt. So war Ste­fan auch hier im beschau­li­chen Wei­her­fel­den gelandet.

Die Spit­zen­grup­pe presch­te vor­an. Ste­fan und ich waren gut bera­ten, uns nicht von der mör­de­ri­schen Geschwin­dig­keit anstecken zu las­sen. Unser Tem­po soll­te aus­rei­chen, um die Vor­ga­be des Trai­ners ein­zu­hal­ten. Und wir woll­ten nicht auf dem letz­ten Kilo­me­ter ein­bre­chen. Die hin­ter uns lau­fen­de Grup­pe bestand aus den eher erfah­re­ne­ren Spie­lern. Rou­ti­nier Klaus Mei­er führ­te die­se Lauf­grup­pe an, die mit jeden 100 Metern ein paar wei­te­re Schrit­te zurückfiel.

Als wir die Fest­wie­se pas­sier­ten, hat­ten Ste­fan und ich ein gleich­mä­ßi­ges Tem­po gefun­den, bei dem wir sogar kur­ze Gesprä­che füh­ren konn­ten. Wir tausch­ten uns über die ersten Ein­drücke aus: den Trai­ner, die Mannschafts­kollegen, und den Ort Wei­her­fel­den. Wir waren Bei­de posi­tiv über­rascht. Ste­fan hat­te in Strau­bing eben­falls Kreis­klas­se gespielt und war sehr gespannt, wie das fuß­bal­le­ri­sche Niveau hier in der länd­li­che­ren Gegend in Fran­ken im Ver­gleich war. Unse­re Mann­schaft mach­te spie­le­risch nach den ersten bei­den Trai­nings­ein­hei­ten einen star­ken Ein­druck. Wer weiß, viel­leicht war ja sogar der Auf­stieg drin!

„Unser Tor­wart ist nicht schlecht, oder?“, stell­te ich fest.

„Ja, wie heißt er noch? Andre­as Stie­ler oder so. Der haut sich echt voll rein!“

„Das stimmt. Ganz schön ehr­gei­zig. Was hältst du von die­sem Niklas?“

„Niklas Din­ger, oder? Den kann ich noch nicht rich­tig ein­schät­zen. Er wirkt auf dem Platz recht wen­dig und trick­reich, aber irgend­wie trau ich dem nicht, da er so eine Art Pau­sen­clown zu sein scheint.“

„Aber die­ser Bernd Hagen ist ein guter Fuß­bal­ler, oder?“

„Sei­ne Spiel­in­tel­li­genz ist echt der Ham­mer, ja. Aber ein biss­chen faul, oder?“

„Das schon, aber was der macht, hat Hand und Fuß. Dafür läuft unser Kapi­tän Harald bestimmt sei­nen Teil mit.“

„Da hast du Recht. Das ist wirk­lich ein Tier! Und gegen dei­nen Freund Micha­el Mei­ster zu spie­len ist auch kein Zuckerschlecken…“

Wir waren inzwi­schen eine gerau­me Zeit lang einen schier end­lo­sen Kies­weg ent­lang gejoggt. Die stei­le Schlit­ten­bahn hat­ten wir bereits hin­ter uns gelas­sen. Irgend­wo muss doch nun die­ser ver­damm­te Wert­stoff­hof kom­men. Wir befan­den uns auf einem Wald­weg. Es waren kei­ne Häu­ser in Sicht. Stirn­run­zelnd blick­te Ste­fan auf sei­ne Armbanduhr.

„Die Stun­de ist jetzt gleich vor­bei“, keuch­te er.

Selt­sam, dach­te ich. Wir waren an sich ein gutes Tem­po gelau­fen. Zudem waren wir im vor­de­ren Drit­tel der Mann­schaft, und es war nie­mand an uns vorbei­gezogen. Wenn selbst wir die eine Stun­de nicht schaff­ten, wür­de mehr als die Hälf­te der Mann­schaft die Vor­ga­be rei­ßen. Der Trai­ner kam doch von hier. Er muss­te doch ein­schät­zen kön­nen, wel­che Zeit für die­se Lauf­strecke rea­li­stisch war.

„Ver­dammt!“, rief ich schließ­lich, als ein ungu­ter Ver­dacht in mir aufstieg.

„Hast du auch das Gefühl, dass wir uns ver­lau­fen haben?“, frag­te Ste­fan besorgt.

„Wir hät­ten uns wohl bes­ser einer Grup­pe mit ein oder zwei Wei­her­fel­de­nern an die Fer­sen hef­ten sol­len“, stell­te ich seuf­zend fest.

Es war aber auch däm­lich gewe­sen, dass gera­de die bei­den Zuge­rei­sten, die sich in den Wald­ge­bie­ten rund um Wei­her­fel­den noch über­haupt nicht aus­kann­ten, ein Lauf­paar gebil­det hatten.

„Was schlägst du vor?“, frag­te ich den älte­ren Ste­fan in der nai­ven Hoff­nung, dass ein Leh­rer wuss­te, wie man auf den rich­ti­gen Weg zurück­fand. Aber Ste­fan war Leh­rer, kein Pfad­fin­der. Das soll­ten wir noch schmerz­lich erfahren.

„Irgend­wo muss die­ser end­lo­se Weg ja hin­füh­ren“, ant­wor­te­te Ste­fan achselzuckend.

Da zuck­te schließ­lich auch ich mit den Ach­seln. In dem Augen­blick hat­te es sich ganz ein­fach sinn­voll angehört.

Wir lie­fen deut­lich wei­ter als die gefor­der­ten 12 Kilo­meter. Bei­de hoff­ten wir ins­ge­heim, dass der Trai­ner uns zumin­dest die­sen Eifer hoch anrech­ne­te. Als wir schon den Ver­dacht dis­ku­tier­ten, dass es sich hier nicht um ein ganz ein­fa­ches Dorf­wäld­chen, son­dern um einen weit ange­leg­ten Natur­park han­deln muss­te, erblick­ten wir ein Leuch­ten am Ende des Weges. Flut­licht! Gott sei Dank!

Wir beschleu­nig­ten das Tem­po, spur­te­ten um die näch­ste Weg­bie­gung, und blie­ben wie ange­wur­zelt ste­hen. Ja, es war ein Sport­platz. Aber nicht das Gelän­de des TSV Wei­her­fel­den. Egal! Die Leu­te, die hier trai­nier­ten, waren aus dem Nach­bar­ort. Sie konn­ten uns bestimmt sagen, wie wir dort­hin zurückkamen.

Ver­wun­der­te Blicke durch­bohr­ten uns, als wir uns abge­kämpft in den blau-gel­ben Far­ben unse­res neu­en Ver­eins an den Rand des Plat­zes stell­ten. Kurz dar­auf unter­brach einer der Spie­ler sei­ne Trai­nings­übung und schlen­der­te läs­sig zu uns herüber.

„Habt ihr euch ver­lau­fen?“, frag­te er und begut­ach­te­te uns mit einem abschät­zi­gen Blick von oben bis unten. Man kann­te sich in den Nach­bar­ver­ei­nen klei­ner Ort­schaften. Offen­sicht­lich wur­de bereits gerät­selt, wer die­se bei­den neu­en Spie­ler der blau-gel­ben Wei­her­fel­de­ner waren.

„Wir sind neu beim TSV Wei­her­fel­den und haben uns tat­säch­lich beim Wald­lauf ver­lau­fen“, lach­te Ste­fan mit einer gebüh­ren­den Por­ti­on Selbstironie.

„Hubert!“, rief der Spie­ler des Nach­bar­ver­eins einem Funk­tio­när zu, der am Spiel­feld­rand stand und mit Argus­augen das Trai­ning beob­ach­te­te. „Die bei­den Exper­ten aus Wei­her­fel­den haben sich ver­lau­fen. Bring sie doch mal ins Sport­heim. Dann kön­nen sie schnell in Weiher­felden anru­fen und sich abho­len lassen.“

Das ist ja nett, dach­te ich, und folg­te Hubert treu wie ein Hünd­chen ins Sportheim.

„Mei­ne Güte, ihr seht ja ganz schö ver­schwitzt aus. Wollt ihr euch schnell umzie­hen oder duschen? Bis ihr zurück in Wei­her­fel­den seid, is euer Trai­ning dort sowie­so scho vorbei.“

Das war ein echt tol­les Ange­bot von Hubert. Ste­fan und ich waren müde. Die Aus­sicht auf eine hei­ße Dusche war sehr verlockend.

„Wir haben ja nichts zum Umzie­hen dabei. Ich den­ke, wir las­sen uns schnell abho­len und duschen dann in Wei­her­fel­den“, erwi­der­te Ste­fan freundlich.

„Das ist doch kein Pro­blem. Ich zeig euch die Gäste­ka­bi­ne und bring euch schnell Hand­tü­cher und Trai­nings­an­zü­ge. Dann könnt ihr euch kurz aus­ru­hen und duschen, wäh­rend wir in eurem Sport­heim anru­fen, damit euch eure Kol­le­gen abho­len. Die Trai­nings­an­zü­ge könnt ihr uns ja mor­gen schnell vorbeifahren.“

Die­ser Hubert war ja bei­na­he auf­dring­lich. Aber Ste­fan und ich dach­ten uns nichts dabei. Der Gedan­ke an eine war­me Dusche war ein­fach zu verlockend.

Und so führ­te uns die­ser Hubert in die Kata­kom­ben des Sport­heims. Gast­freund­lich zeig­te er uns die Gäste­kabine und die Duschen. Stöh­nend zogen Ste­fan und ich die ver­schwitz­ten Trai­nings­kla­mot­ten aus und schlender­ten aus­ge­laugt über den geflie­sten Flur zur Dusche. Das hei­ße Was­ser war eine ech­te Wohltat.

„Oh Mann, das wer­den wir uns jetzt ewig anhö­ren müs­sen!“, lach­te ich.

„Ver­mut­lich. Aber es gibt Schlim­me­res“, kicher­te Ste­fan. Er wuss­te nicht, wie Recht er hatte.

Hubert hat­te uns noch kei­ne Hand­tü­cher gebracht. Bestimmt wur­den sie in der Gäste­ka­bi­ne bereit­ge­legt. Ste­fan und ich hat­ten bereits aus­ge­macht, die gelie­he­nen Trai­nings­an­zü­ge gleich mor­gen Nach­mit­tag zurückzu­bringen und einen Brot­zeit­korb für die hilfs­be­rei­te Mann­schaft des Nach­bar­or­tes zu spendieren.

Erholt öff­ne­te ich die Tür. Zumin­dest bei­na­he. Denn sie klemmte.

„Will­kom­men in der Pro­vinz“, mur­mel­te ich zu mir selbst und dach­te mir noch, dass es das bei mei­nem alten Ver­ein in Ham­burg nicht gege­ben hät­te, dass die Tür zur Dusche der­art klemm­te. Mit etwas mehr Wucht stemm­te ich mich gegen die Tür. Nichts passierte.

Ste­fan gesell­te sich neben mich, drück­te gemein­sam mit mir gegen die klem­men­de Tür, aber sie beweg­te sich nicht. Na toll, dach­te ich. Das pass­te zu die­sem ver­hex­ten Tag. Plei­ten, Pech und Pan­nen! Eigen­ar­tig, dass die Tür so ein­fach auf­ge­gan­gen war, als wir in die Dusche ge­stiegen waren. Moment mal… Verdammt!

„Denkst du das Glei­che wie ich?“, frag­te mich Ste­fan, als er in mein schockier­tes Gesicht blickte.

„Haben die­se Voll­idio­ten uns hier ein­ge­sperrt?“, rief ich un­gläubig. Aber war­um soll­ten sie das denn tun?

In mei­ner groß­städ­ti­schen Nai­vi­tät wuss­te ich noch nicht, was mich auf dem frän­ki­schen Dorf erwar­te­te. Von die­sem spe­zi­el­len Nach­bar­dorf ganz zu schwei­gen. Aber woher hät­ten Ste­fan und ich auch wis­sen sol­len, dass dies das Sport­heim des SV Obst­ho­fen war. Und welch tie­fe, sorg­sam über Gene­ra­tio­nen hin­weg ge­pflegte Feind­schaft zwi­schen den bei­den Orten herrsch­te. Eini­ge Wochen spä­ter erzähl­te mir unser Kapi­tän Harald Gepard bei einem Bier, dass sich einst bereits die Wei­her­fel­de­ner und Obst­ho­fe­ner Groß­vä­ter auf den Äckern gegen­sei­tig mit Stei­nen bewor­fen hat­ten. Das Der­by zwi­schen dem TSV Wei­her­fel­den und dem SV Obst­ho­fen war jedes Jahr für bei­de Mann­schaf­ten das High­light der Saison.

Hät­ten wir das alles damals gewusst, Ste­fan und ich wären lie­ber umge­kehrt und noch ein­mal ziel­los im Wald umher­ge­irrt, als uns schutz­los in die Höh­le des Löwen zu bege­ben. Nun war es zu spät. Wir konn­ten nichts wei­ter machen, als in der feind­li­chen Dusche aus­zu­har­ren und abzu­war­ten, was der SV Obst­ho­fen mit sei­nen bei­den nai­ven Gefan­ge­nen vor hatte.

Nach eini­gen Minu­ten, die Ste­fan und mir wie Stun­den vor­ge­kom­men waren, klopf­te eine Obst­ho­fe­ner Faust unsanft gegen die Tür. Wir hat­ten ver­stan­den. Also durf­ten wir nun doch her­aus­kom­men. Da woll­te uns wohl jemand nur einen klei­nen Schrecken ein­ja­gen. Ein Seuf­zen der Erleich­te­rung hall­te durch die Dusche. Doch das Schlimm­ste stand uns noch bevor.

Vor der Dusche wim­mel­te es vor Men­schen. Was ist denn jetzt los?, frag­te ich mich. Obst­ho­fe­ner Fußball­spieler ver­sperr­ten den nach links füh­ren­den Weg zurück zur Gäste­ka­bi­ne, wo sich unse­re ver­schwitz­ten Trainings­klamotten befan­den. Wir muss­ten also nach rechts lau­fen. Die gesam­te Mann­schaft des SV Obst­ho­fen stand klat­schend zu bei­den Sei­ten des Gan­ges Spa­lier. Sie amü­sier­ten sich präch­tig. Nackt wie Gott uns schuf, folg­ten Ste­fan und ich dem durch das Spa­lier geform­ten Durch­gang, der uns zu einer Trep­pe führ­te. Ich glau­be von mir behaup­ten zu kön­nen, dass ich durch­aus die Fähig­keit habe, über mich selbst zu lachen. Die­se Situa­tion aber war so unend­lich pein­lich, dass ich nicht mehr dar­über lachen konn­te. Ich wäre am lieb­sten im Boden ver­sun­ken. Auch mein Lei­dens­ge­nos­se Ste­fan blick­te be­treten zu Boden, um ja kei­nem der Obst­ho­fe­ner Spie­ler in das hämi­sche Gesicht sehen zu müssen.

„Ich hof­fe, ich tref­fe euch mal bei einem Eltern­abend!“, raun­te er lei­se. Ob er das wirk­lich woll­te, hielt ich für frag­lich. Wel­cher Leh­rer hat­te schon gern Schü­ler in sei­ner Klas­se, deren Eltern ihn nackt durch die Kata­komben eines Sport­heims getrie­ben hat­ten? Sol­che Anek­do­ten ver­brei­te­ten sich in Schü­ler­krei­sen schnel­ler als ein Lauffeuer.

Unter dem tosen­dem Applaus unse­rer hin­ter­li­sti­gen Pei­ni­ger, stie­gen wir eine klei­ne Trep­pe hin­auf, an deren Ende ein ach so freund­li­cher, dia­bo­lisch grin­sen­der Hubert mit gespiel­ter Höf­lich­keit eine Tür für uns auf­hielt. Wir tra­ten durch die Tür – was hät­ten wir auch ande­res tun sol­len – und ern­te­ten wei­te­ren Applaus. Das son­der­ba­re Bild, das sich uns beim Ver­las­sen des Obst­hofener Sport­heims bot, ver­folg­te mich tage­lang in mei­nen Träumen.

Etwa zwan­zig Zuschau­er hat­ten sich auf dem Park­platz des Sport­ge­län­des ver­sam­melt und klatsch­ten kichernd in die Hän­de. Wann sonst hat­te man die Gele­gen­heit, zwei Voll­idio­ten aus dem ver­hass­ten blau-gel­ben Wei­her­fel­den nackt aus dem Obst­ho­fe­ner Sport­heim tau­meln zu sehen? Ver­ein­zel­te Frau­en, die sich unter den joh­len­den Zu­schauern befan­den, ver­gli­chen laut­stark mit obszö­nen Gestern unter­malt, was Ste­fan und ich zu bie­ten haben. Mit hoch­ro­ten Köp­fen kamen wir vor einem Turm aus fünf Kästen Bier, drei dicken Lai­ben Brot und einem gewal­ti­gen Hau­fen Dosen­wurst zum Ste­hen. Ver­wun­dert blick­ten wir uns um. Was hat­te es nun damit auf sich?

„Hier sind eure Kla­mot­ten“, bell­te aus dem Halb­dunkel die miss­mu­ti­ge Stim­me von Andre­as, unse­rem Trai­ner. Die drei hin­ter dem Bier­ka­sten­turm ver­bor­ge­nen Mann­schafts­kol­le­gen konn­ten sich eine Mischung aus scha­den­fro­hem Grin­sen und vor­wurfs­vol­ler Mie­ne nicht ver­knei­fen. Trotz­dem war ich nie zuvor so froh gewe­sen, ein Wei­her­fel­de­ner Gesicht zu sehen.

„Zieht euch an. Wir fah­ren!“, kom­men­tier­te der Trai­ner trocken, mach­te auf dem Absatz kehrt und stieg ohne ein wei­te­res Wort in sein Auto. Gehor­sam folg­te ich ihm. Ste­fan klet­ter­te zu Spiel­lei­ter Wil­li in den zwei­ten Wei­her­fel­de­ner Wagen.

Die Rück­fahrt nach Wei­her­fel­den war still. Nie­mand wag­te zu spre­chen. Der Trai­ner wirk­te stock­sauer. Wir hat­ten den TSV Wei­her­fel­den bis auf die Kno­chen bla­miert. Der gesam­te Spiel­kreis wür­de sich bald über die­se Geschich­te kaputt­la­chen. An jenem Tage war mir die Trag­wei­te des merk­wür­di­gen Ereig­nis­ses eben­so wenig bewusst wie die Hin­ter­grün­de, die dazu geführt hat­ten. Von der tief­lie­gen­den Riva­li­tät mit dem SV Obst­ho­fen erfuhr ich erst eini­ge Stun­den spä­ter im Wei­her­fel­de­ner Sport­heim. Und auch was es mit den fünf Kästen Bier und der Brot­zeit auf sich hat­te, ver­stand ich erst, als Ste­fan und ich auf­ge­for­dert wur­den, für unse­re Aus­lö­se zu bezah­len. Hubert, der Spiel­lei­ter des SV Obst­ho­fen, hat­te näm­lich wirk­lich im Wei­her­fel­de­ner Sport­heim ange­ru­fen, nach­dem er uns in die Dusche gelockt und dort ein­ge­sperrt hat­te. Das Bier und die Brot­zeit waren eine Art frän­ki­sches Löse­geld gewesen.

Zumin­dest eines mei­ner hoch­ge­steck­ten Zie­le für die ersten Wochen beim neu­en Ver­ein hat­te ich in jedem Fal­le damit erreicht: Ich hat­te mir in Wei­her­fel­den rasch einen Namen gemacht.

Im ersten Vor­be­rei­tungs­spiel beim TSC Hers­berg war ich den­noch im Kader der 1. Mann­schaft. Hers­berg war ein guter Geg­ner mit einem schö­nen Sport­ge­län­de. Sie zähl­ten zu den Top­fa­vo­ri­ten in der Nach­bar­kreis­klas­se Süd.

Als wir uns vor dem Spiel in der Umklei­de­ka­bi­ne zu einer kur­zen Mann­schafts­sit­zung zusam­men­setz­ten, blick­te Coach Andre­as Diet­ner jedem ein­zel­nen Spie­ler tief in die Augen. Ich war zutiefst beein­druckt. Unser Trai­ner schien ein gro­ßer Moti­va­tor zu sein. Wenn er schon vor einem unwich­ti­gen Vor­be­rei­tungs­spiel zu sol­chen Mit­teln griff, war ich gespannt, wie Diet­ner uns auf ein Spiel gegen Obst­ho­fen ein­stimm­te. Woher hät­te ich als nai­ver jun­ger Neu­zu­gang wis­sen sol­len, dass unser Trai­ner kein ver­sier­ter Moti­va­tor war, son­dern sich durch die jah­re­lan­ge Trai­ner­tä­tig­keit in der Kreis­klas­se zu einem fleisch­ge­wor­de­nen Alko­hol­de­tek­tor ent­wickelt hat­te? Mei­ne Mann­schafts­kol­le­gen hat­ten sogar schon ein­mal eine Bewer­bung an die Fern­seh­sen­dung „Wet­ten dass…“ abge­schickt: Wet­ten, dass Andre­as Diet­ner aus Wei­her­fel­den allein durch einen kur­zen Blick in deren Augen den Pro­mil­le­spie­gel sei­ner Fuß­ball­spie­ler in vier von fünf Fäl­len genau­er ein­schät­zen kann, als ein Ver­kehrs­po­li­zist mit sei­nem Blas­rohr. Lei­der wur­de er nie als Kan­di­dat ein­ge­la­den. Er wäre gewiss Wett­kö­nig geworden.

In der ersten Halb­zeit schenk­te der Trai­ner sei­ner eta­blier­ten Stamm­elf das Ver­trau­en. Aber im zwei­ten Spiel­ab­schnitt kamen die Per­spek­tiv­spie­ler aus der 2. Mann­schaft und die Neu­zu­gän­ge zum Zug. Es war ein flot­tes Spiel, in dem bei­de Teams zeig­ten, dass sie über ein hohes spie­le­ri­sches Poten­zi­al ver­füg­ten. Trai­ner Diet­ner wech­sel­te mich zur Halb­zeit beim Stand von 2–2 auf mei­ner Lieb­lings­po­si­ti­on im zen­tra­len defen­si­ven Mit­tel­feld ein. Für unge­üb­te Zuschau­er meist unspek­takulär, konn­te man dort Spie­le ent­schei­den. Nicht durch das Erzie­len vie­ler Tore wie ein Stür­mer. Eben­so wenig durch spek­ta­ku­lä­re Ret­tungs­ak­tio­nen vor dem eige­nen Tor wie ein star­ker Abwehr­spie­ler. Unauf­fäl­lig und doch effi­zi­ent, konn­te man die Angrif­fe der geg­ne­ri­schen Mann­schaft bereits im Keim ersticken, bevor sich die brenz­li­gen Situa­tio­nen über­haupt entwickelten.

Alles in allem war mein erster Ein­satz für den TSV Wei­her­fel­den ein soli­des Debüt. In jedem Fal­le hat­te ich bei dem 3–3 in Hers­berg eine weit­aus bes­se­re Figur ge­macht, als bei mei­nem nack­ten Irr­lauf durch das Obst­hofener Sportheim.


Die „Sonn­tags­schüs­se“ erschei­nen jeweils am Sonntag 😉
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Titel: Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreisklasse

Ama­teur-Fuß­bal­ler Mar­co Tan­ner muss sich als “Zuge­rei­ster“ in die def­ti­ge frän­ki­sche Lebens­wei­se ein­fin­den, um bei sei­nem skur­ri­len neu­en Fuß­ball­ver­ein Fuß zu fassen.