„Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse“, Kapitel 1

"Sonntagsschüsse" Buchcover

„Sonntagsschüsse“ Buchcover

Episoden aus dem Buch von Jonas Phillips – jeden Sonntag im „Neuen Wiesentboten“

Trainingsauftakt

Ich hatte meine Sporttasche lässig über die Schulter geworfen und betrat das kleine Sportheim. Noch hatte ich keine Ahnung, was mich hier erwartete. Kreisklasse, dachte ich skeptisch. Da bin ich ja mal gespannt, wie das fußballerische Niveau hier sein wird. Ich hatte meine Bedenken. Seit ich laufen kann, habe ich immer gern Fußball gespielt. Im Alter von 5 Jahren hatte ich erstmals die Fußballschuhe geschnürt. Damals hatten wir noch in Hamburg ge­wohnt. So ganz talentfrei war ich offenbar nicht gewesen. In der B-Jugend und A-Jugend hatte ich schließlich den Sprung in die Junioren-Oberliga geschafft. Keine Bundesliga zwar, aber zumindest höherklassig, mit sehr gut ausgebildeten Trainern, exzellenten Trainings­bedingungen, und nicht zuletzt hartem Konkurrenzkampf mit erlesenen Mannschaftskollegen, was sicherlich auch sehr leistungsfördernd gewesen war.

Nun hatte es meinen Vater also beruflich nach Bayern verschlagen. Nach Franken, um genau zu sein. So viel hatte ich in den ersten Tagen bereits gelernt, dass dies ein kleiner aber feiner Unterschied ist, den man besser be­achten sollte, wenn man hier nicht gleich zum Start anecken wollte. Gern hätte ich den Schritt von der A-Jugend in den Herrenbereich in meiner gewohnten Hamburger Umgebung vollzogen. Dort kannte ich die Mannschaften und Vereine. Und ich hätte mit den Referenzen aus der erfolgreichen Juniorenzeit eine ambitionierte Bezirks- oder Bezirksoberligamannschaft gefunden, bei der ich den Sprung in eine sportlich vielversprechende Amateurkarriere mit Potenzial zu einem nicht unerheblichen Nebenverdienst geschafft hätte.

Nun saß ich im ländlichen Franken fest. Natürlich gab es auch hier eine Bezirksliga und eine Bezirksoberliga. Doch mein Vater hatte mir in seiner unendlichen Weisheit geraten, zumindest im ersten Jahr in meinem neuen Heimatort Weiherfelden zu spielen. In der Kreisklasse Nord. Begeistert war ich nicht. Ich hatte mir mehr erwartet von meinem Einstieg in den Herrenbereich. Und ich hatte keine Ahnung, was in der Kreisklasse Nord auf mich zukam.

Aus sportlicher Sicht war es vielleicht nicht die beste Entscheidung meines Lebens. Aus menschlicher Sicht aber war es im Nachhinein betrachtet doch der richtige Weg. Noch wusste ich nicht, dass ich in den nächsten Jahren Amateurfußball pur in seiner reinsten Form erleben würde. Mit all den Ecken, Kanten und liebenswerten Kuriositäten, die den Fußball noch ein kameradschaftliches Hobby sein lassen, bei dem trotz aller Gier nach Siegen, Punkten und Triumphen noch Freundschaft, Zusammenhalt, Spaß und Freude im Vordergrund stehen.

Bekanntschaft mit der zünftigen fränkischen Art hatte ich bereits am Nachmittag gemacht. Sehr nette und freundliche Menschen, diese Franken. Das hatte ich gleich erkannt.

Der erste Tag in der neuen Heimat. Ich brannte darauf, das Dorf zu erkunden. Der sogenannte Ortskern war in etwa so belebt wie eine Seitenstraße eines Hamburger Vorstadtviertels nachts um drei. Ich parkte das Auto, das mir meine Eltern vor knapp einem Jahr zum 18. Geburtstag geschenkt hatten, vor dem „Supermarkt“ und schlenderte über die „Hauptstraße“. Das Dorf war klein, aber dafür ruhig und malerisch. Hier gab es keine riesigen Hochhäuser, grauen Wohnblöcke oder gigantische, vor Menschen wimmelnde Einkaufszentren. Bunte Häuser reihten sich fein säuberlich aneinander, getrennt durch geräumige gepflasterte Hofeinfahrten, die weiter hinten in einen kleinen Rasen oder Garten mündeten. Auch wenn ich St. Pauli und die Große Freiheit vermissen würde, ließ es sich hier in diesem idyllischen Örtchen sicher aushalten.

Als ich von meiner ersten Erkundungstour zum Auto zurückgekehrt war, startete ich den Motor und machte mich auf den Weg zu unserem neuen Zuhause. Plötzlich stand mitten in der Straße ein mächtiger Traktor. Obwohl die Straße eigentlich gar nicht so schmal war, so dass man sich mit seinem Auto ohne große Mühe an einem Traktor hätte vorbeiquetschen können, hatte es der Fahrer geschafft, sein Gefährt so unglücklich in der Mitte der Straße zu platzieren, dass weder rechts noch links ein Weg vorbei führte.

Kein Problem, dachte ich. Ich habe ja Zeit. Und so saß ich hinter dem Lenkrad, starrte gebannt auf das grüne Ungetüm und trommelte immer schneller auf dem Armaturenbrett. An sich bin ich ja ein gemütlicher Mensch. Aber irgendwann war selbst meine Geduld am Ende. Nach einigen Minuten stieg ich aus und blickte mich suchend um. Ein paar Meter den Berg hinauf stand ein junger untersetzter Mann mit einem kugelrunden Gesicht an einen Gartenzaun gelehnt. Genüsslich nippte er an einer Flasche Bier und unterhielt sich in aller Seelenruhe mit einem kleinen Männlein, der mit seinen zotteligen Kopf- und Gesichtshaaren wie eine Kreuzung aus Bär und Yeti aussah.

Da der junge biertrinkende Mann Gummistiefel und dreckige Arbeitsklamotten trug, kombinierte ich folge­richtig, dass ihm der sperrige Traktor gehörte. Tief in ihr Gespräch versunken, bemerkten die Beiden nicht, dass ich mich näherte. Ich konnte sie gut hören, aber ehrlich gesagt verstand ich kein Wort. Sprachen sie wirklich Deutsch? Ich wusste es nicht, musste aber vom Schlimmsten ausgehen.

„Entschuldigen Sie bitte“, begann ich freundlich. „Ist das Ihr Traktor?“

Mit einem verdutzten Gesichtsausdruck drehte sich der junge Bauer zu mir um, plusterte seine dicken Pausbacken auf, die jedem wohlgenährten Baby ernsthafte Kon­kurrenz machten, und brummte ein unmissverständliches „Hmmmmm“. Dann wandte er sich seiner Bierflasche zu, stieß mit dem Boxbeutel seines zotteligen Kumpanen an und nahm einen tiefen, gluckernden Schluck. Über die Tatsache, dass ein Boxbeutel an einem Werktag gegen 14 Uhr ein recht ungewöhnliches Getränk darstellte, wunderte ich mich erst einige Stunden später. In diesem Augenblick waren all meine geistigen Kräfte auf die Interpretation des vielversprechenden „Hmmmmm“ kon­zentriert.

Getragen von der Annahme, dass „Hmmmmm“ in Franken so viel bedeuten musste wie „Ja“, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. „Könnten Sie den bitte zur Seite fahren? Ich komme mit meinem…“

Weiter kam ich nicht.

„Leggst mi fei aweng am Oasch! Der Bulldog blebbt ste!“, fluchte es mir wutentbrannt entgegen.

Auch wenn ich nur wenig verstand, konnte ich doch erahnen, dass es sich um eine lange, oder besser gesagt zünftig-deftige Fassung des Wortes „Nein“ handeln musste.

Eingeschüchtert von den zornesroten Pausbacken des verärgerten Bauernjungen, machte ich auf dem Absatz kehrt, setzte mich zurück in mein Auto und verbrachte einfach noch weitere zehn Minuten damit, ungeduldig auf dem Armaturenbrett zu trommeln. Kurz spielte ich sogar mit dem Gedanken, auf eine andere Route auszuweichen. Aber das war der einzige Weg zurück zu meinem neuen Zuhause, den ich bislang kannte. Und wer wusste schon, ob auf anderen Straßen noch weitere pausbäckige Bauernjungen mit ihren Traktoren lauerten. Womöglich waren diese sogar mit ihren Mistgabeln bewaffnet. Ich wollte nicht vom Regen in die Traufe kommen! Nein, Warten war die beste Alternative.

Dann endlich hatte der junge Bauer sein Bier ausgetrunken, plauderte noch ein paar rasche Sätze mit seinem haarigen Kollegen und kletterte schwerfällig zurück auf den Traktor.

Als ich schließlich weiterfahren konnte, hatte ich meine ersten fränkischen Lektionen gelernt.

Erstens hatte ich erste Erfahrung mit der scharf­züngigen und für Nordlichter wie mich unverständlichen oberfränkischen Sprache gemacht. Ein unvergessliches Erlebnis.

Zweitens hatte ich gelernt, dass der Traktor in Franken Bulldog heißt. War das der Grund gewesen, warum der Bauernjunge so böse auf mich gewesen war?

Drittens sollte ich mir nach diesem erleuchtenden Erlebnis für immer und ewig hinter die Ohren schreiben, niemals einen waschechten Franken beim Biertrinken zu stören oder zu hetzen.

Nach diesem fulminanten Start in mein neues Leben fühlte ich mich beinahe wie ein echter Franke, oder zumindest ein Experte für den Umgang mit charmanten fränkischen Bauernjungen. Ich war also bereit für den Trainingsauftakt beim TSV Weiherfelden und öffnete nervös die Tür zum kleinen Sportheim meines neuen Vereins.

Der erste Mitspieler, der aus dem Wirtschaftsraum kommend hinter mir die Treppe hinuntereilte, zündete sich mit dem glühenden Stummel einer fertig gerauchten Zigarette den nächsten Glimmstängel an. Hier wird ein sportlicher Lebenswandel noch großgeschrieben, stellte ich kopfschüttelnd fest, ließ den fußballspielenden Kettenraucher an mir vorbeiziehen und folgte ihm zur Kabine der Herrenmannschaft. Vor der Tür gönnte er sich noch drei gierige Züge. Dann warf er seine Zigarette auf den Boden, trat sie aus und öffnete die Tür.

Als Erstes überraschte mich die hohe Trainings­beteiligung. Fast 25 Mann waren in der Umkleidekabine damit beschäftigt, ihre Trainingsklamotten anzuziehen und die Fußballschuhe zu schnüren. Entweder das Training machte mächtig Spaß, oder dieses Team hatte große Ambitionen in der Kreisklasse Nord.

Instinktiv zog es mich zur ältesten Person im Raum. Das war gewiss der Trainer. Fragend blickte mich der kleine Mann, den ich etwa auf Mitte Vierzig schätzte, an.

„Marco Tanner“, sagte ich, und streckte ihm die Hand entgegen. „Wir haben heute telefoniert.“

„Ja, genau“, antwortete er und schüttelte meine ausgestreckte Hand. „Andreas Dietner. Der Trainer dieses Sauhaufens!“

Brummige „Hey, Hey!“-Rufe und deftige Proteste drangen von allen Seiten auf den lachenden Trainer ein.

„Siehst du, genau das mein ich mit Sauhaufen. Kein Respekt vor ihrem Coach!“, murmelte er kopfschüttelnd und bückte sich, um seine Schuhe zuzubinden.

Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich mit meiner Sporttasche über der Schulter neben ihm und blickte mich ratlos um. Die Kabine bestand aus zwei Teilen, die durch eine bis in die Mitte des Raumes ragende Wand getrennt waren. Über den meisten Kleiderhaken hingen selbstgebastelte Namensschilder. Ein fester Platz in der Umkleidekabine schien eine Art Statussymbol zu sein. In der Mitte des Hauptraums befand sich eine alte klapprige Massagebank. Nichts Ungewöhnliches bei einem Fußball­verein. In der Mitte des Nebenraums hatte jemand eine Eisenstange angebracht, die am Fußboden und in der Decke verankert war. Das durfte man durchaus als unge­wöhnlich bezeichnen. Ich wollte gar nicht erst wissen, wozu diese Stange verwendet wurde.

„Such dir einfach einen freien Platz, über dem kein Namensschild hängt“, rief mir ein hagerer Spieler zu, ehe er sich einen Trainingsball schnappte und die Kabine verließ. Ihm war meine anfängliche Unsicherheit schein­bar nicht entgangen.

Ich gab mir einen Ruck und bewegte mich zielstrebig auf einen freien Platz zu, als mich ein großgewachsener blonder Kollege von der Seite anblaffte: „Falscher Raum, mein junger Freund! Das ist die Kabine der 1. Mannschaft. Den Platz hier muss man sich erst verdienen! Neulinge sitzen dort drüben in der Zweitmannschaftskabine.“

Oha! Klassengesellschaft!, schoss es mir durch den Kopf. Aber als Neuling musste man sich solchen Gepflogenheiten fügen. Etwas verwundert war ich natürlich schon. Aber da ich ja am Nachmittag bereits Bekanntschaft mit dem Charme der oberfränkischen Naturburschen gemacht hatte, verdaute ich den ersten Schock schnell und zog mich mit einem knappen „Na dann“ in die Kabine der 2. Mannschaft zurück. Trainer Andreas Dietner hatte die Szene amüsiert aus dem Augenwinkel verfolgt, sagte aber nichts. Seine nach­denkliche Miene war schwer zu deuten.

Das erste Training war unspektakulär. Zum Start spielten wir eine Weile fünf gegen zwei, ein klassisches Aufwärmspiel, bei dem fünf Spieler sich an den Linien eines Vierecks verteilten und sich mit nur einem Ball­kontakt den Ball gegenseitig zuspielten, ohne dass die beiden aus der Mitte des Vierecks attackierenden Gegenspieler den Ball berührten. Wer einen Fehler machte, musste anschließend selbst in die Mitte. Da unsere Trainingsbeteiligung zum Auftakt sehr hoch war, hatte der Trainer vier „Eckla“, wie es die Franken nannten, aufgebaut. Die Zuordnung der Spieler erfolgte offenbar nach ihrem Können. Im vordersten „Eckla“ wirkten Tempo und Genauigkeit deutlich höher als dort, wo man einen ungetesteten Neuen wie mich platziert hatte. Dementsprechend war es kein Wunder, dass ich mit meiner soliden technischen Ausbildung unter den Mitläufern der 2. Mannschaft herausstach. Zwei lobende Kommentare des Trainers zeigten, dass ihm meine Ballsicherheit nicht entgangen war.

Nach dieser Aufwärmübung rief Andreas Dietner das Team zu einer kurzen Begrüßungsansprache im Mittelkreis zusammen. Er setzte das Ziel, besser abzu­schneiden als mit dem 8. Platz in der Vorsaison, wollte mit etwas Glück vielleicht sogar um die Aufstiegsplätze mitspielen. Dann stellte er die Neuzugänge vor. Ich war keineswegs der einzige Neue. Ein Lehrer namens Stefan war nach Beendigung seines Referendariats nach Oberfranken eingeteilt worden. Deshalb war er ebenfalls vor wenigen Wochen nach Weiherfelden gezogen. Außerdem rückten drei Spieler aus der eigenen Jugend­mannschaft in den Herrenkader auf, die somit mein Alter haben mussten. Nachdem der Trainer auch mich vorge­stellt hatte, teilte er die 25 Spieler in zwei Teams für ein erstes Trainingsspiel auf. Schnell war klar, dass die 1. Mannschaft auf die 2. Mannschaft traf. Da die Neuzugänge der Kabinenplatzregelung entsprechend der 2. Mannschaft zugeteilt wurden, stellte ich mich auf eine einseitige Begegnung mit reichlich Gegentoren ein.

Trainer Andreas machte für beide Mannschaften die Aufstellung. Als er die Gegner für das Trainingsspiel eingestellt hatte, nannte er unserem Team die Positionen.

„Spielst du eher offensiv oder defensiv?“, fragte er mich.

„Am liebsten defensives Mittelfeld.“

„Gut. Probieren wir dich mal hinten in der Abwehr aus. Kümmer dich um Michael Meister, deinen großen blonden Freund aus der Umkleidekabine“, entschied er mit einem verschmitzten Augenzwinkern.

Ich vermag bis heute nicht zu sagen, welche Er­wartungen unser Trainer an dieses Duell hatte. Meine Vermutung ist, dass er mich nach den ersten positiven Eindrücken aus dem „Eckla“ testen wollte, indem er mich gegen seinen gefährlichsten Stürmer stellte. Vielleicht war es aber auch ein Charaktertest gewesen, in dem ich ihm beweisen sollte, dass ich mich nicht vor alteingesessenen Platzhirschen versteckte, sondern dem barschen Verweis in die Zweitmannschaftskabine eine sportliche Antwort entgegenzusetzen hatte.

So schüchtern ich bei meinem ersten Gang in die Kabine auch gewesen war, mein Auftreten auf dem Fußballplatz hatte seit jeher vor Selbstbewusstsein gestrotzt. Ich wusste, was ich drauf hatte, und dieser Michael Meister würde es als erster zu spüren be­kommen. Wir verloren das einstündige Trainingsspiel zwar sang- und klanglos mit 1-6, aber Starstürmer Michael Meister hatte nicht einen einzigen Schuss auf unser Tor abgefeuert. Dennoch hatte er mir alles abverlangt. Ausgefuchst setzte er seinen großgewachsenen Körper auf eine kantige Art und Weise ein, so dass ich das Training nicht ohne die eine oder andere kleine Blessur überstand. Trotzdem hatte ich ihn gehörig in seine Schranken verwiesen. Frustriert über die vielen verlorenen Zwei­kämpfe eilte er grummelnd in die Kabine.

Als ich auf dem Weg in die Umkleide an Trainer Andreas Dietner vorbeilief, nickte er mir anerkennend zu. Das Lächeln auf seinen Lippen machte den Eindruck, als überlegte er bereits, wo er mich am besten in die Aufstellung der 1. Mannschaft einbauen konnte. Nicht der schlechteste Start für das erste Training beim neuen Verein.


Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse

Amateur-Fußballer Marco Tanner muss sich als “Zugereister“ in die deftige fränkische Lebensweise einfinden, um bei seinem skurrilen neuen Fußballverein Fuß zu fassen.