Schulz­bio­graph Man­fred Otzel­ber­ger dis­ku­tier­te mit Staats­se­kre­tä­rin Anet­te Kram­me über den Kanzlerkandidaten

Manfred Otzelberger und Anette Kramme

Man­fred Otzel­ber­ger und Anet­te Kramme

„Authen­tisch statt aalglatt“

Ein ehe­ma­li­ger Buch­händ­ler aus Wür­se­len, der Klein­stadt bei Aachen, schickt sich an, sei­nem wil­den Leben ein wei­te­res Kapi­tel hin­zu­zu­fü­gen, näm­lich Kanz­ler der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zu wer­den. Die Rede ist von Mar­tin Schulz: Schul­ab­bre­cher, geschei­ter­ter Fuß­bal­ler, trocke­ner Alko­ho­li­ker. Was sich nach Lebens­ab­schnit­ten einer gebro­che­nen Exi­stenz anhört, sind die Sta­tio­nen im Leben einer Kämpfernatur.

Der Mann mit dem mar­kan­ten Bart und dem Aller­welts­na­men arbei­te­te sich vom Bür­ger­mei­ster zum Prä­si­den­ten des EU-Par­la­ments hoch, bevor ihn die SPD zum Par­tei­chef und Kanz­ler­kan­di­da­ten kür­te. Mar­tin Schulz ist ein Para­de­bei­spiel dafür, was man in Deutsch­land mit eiser­nem Wil­len errei­chen kann. „Authen­tisch, nicht aal­glatt, ein sel­te­ner Typ Poli­ti­ker, ein Mensch mit Charme und Cha­ris­ma, mit dem man gern ein Bier trin­ken gehen möch­te, weil er zum Lachen nicht in den Kel­ler geht.“ So beschreibt ihn jemand, der ihn über 20 Mal getrof­fen hat: Man­fred Otzel­ber­ger, Jour­na­list bei der „Bun­ten“ und dort zustän­dig für die gro­ßen Poli­ti­ker­por­traits. Der Ober­fran­ke, der lan­ge in Bay­reuth gear­bei­tet hat, war nach einem Inter­view in Brüs­sel im Jahr 2012 so beein­druckt von Schulz, dass er den Kon­takt hielt und im Früh­jahr die erste Bio­gra­phie im Wahl­jahr über ihn ver­fass­te – mit vie­len Details aus sei­nem Privatleben.

„Mar­tin Schulz – Der Kan­di­dat“ (Her­der Ver­lag) lau­tet der Titel des Buches, das bereits tau­send­fach über die Laden­the­ken deut­scher Buch­händ­ler wan­der­te. Daher war das Inter­es­se auch groß, als der Bou­le­vard­jour­na­list im Kün­neth-Palais in Gefrees aus der Bio­gra­phie las und mit den Zuhö­rern über das beweg­te Leben von Mar­tin Schulz dis­ku­tier­te. Staats­se­kre­tä­rin Anet­te Kram­me hat­te Man­fred Otzel­ber­ger ein­ge­la­den, denn auch sie ist vom Poli­ti­ker und Mensch Mar­tin Schulz beein­druckt: „Der rich­ti­ge Mann zur rich­ti­gen Zeit.“ Man­fred Otzel­ber­ger gab einen tie­fen Ein­blick in das Leben des SPD-Chefs, der so ganz anders ist als die nüch­ter­ne Ange­la Mer­kel: tem­pe­ra­ment­voll, kämp­fe­risch, risi­ko­freu­dig. Nur den unbe­ding­ten Wil­len zur Macht teilt er mit ihr.

Schulz hal­te nichts von „Schwur­bel­deutsch“, spre­che ein Deutsch mit kla­ren Haupt­sät­zen, die jeder ver­steht. Dass er kein Abitur habe, stö­re nie­man­den. Als „Instink­t­eu­ro­pä­er“ aus dem Drei­län­der­eck Deutschland/​Niederlande/​Belgien ver­kör­pe­re Schulz dass, was dem Typus Poli­ti­ker in Deutsch­land seit lan­gem feh­le: „Lust und Lei­den­schaft, er brennt für die Idee Euro­pa wie vor ihm viel­leicht nur Hel­mut Kohl.“

Jeweils zehn The­sen hat­te der Jour­na­list im Gepäck, war­um oder war­um eben auch nicht Schulz Kanz­ler der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land wer­den kann. „Er kann sich an den eige­nen Haa­ren aus dem Dreck zie­hen‘“, meint Otzel­ber­ger, Schulz lebt die­ses Prin­zip mit eiser­ner Dis­zi­plin und unglaub­li­cher Zähig­keit. Nach Jah­ren des Alko­hol­miss­brauchs hat er von einem Tag auf den ande­ren sein Leben ver­än­dert, spä­ter auch das Rau­chen auf­ge­ge­ben, sogar 13 Kilo abge­speckt. In lan­gen poli­ti­schen Debat­ten am hei­mi­schen Küchen­tisch mit sei­ner CDU-Mut­ter und dem Rest der sie­ben­köp­fi­gen Fami­lie, die alle Sozis waren, habe er sein Welt­bild geformt. „Er weiß, wie es ist ganz unten zu sein, Jusos, sei­ne Geschwi­ster und Freun­de haben ihn als jun­gen Mann vor dem tota­len Absturz geret­tet. Kein Poli­ti­ker ver­kör­pert so gut wie er das für Sozi­al­de­mo­kra­ten so wich­ti­ge Prin­zip der zwei­ten Chan­ce. Das hat ihm Ein­füh­lungs­ver­mö­gen für die Sor­gen des klei­nen Man­nes mit auf den Weg gege­ben“, meint Otzelberger.

Aber kann ein sol­ches Ach­ter­bahn­le­ben den deut­schen Wäh­ler über­zeu­gen? Waren 100 Pro­zent Zustim­mung bei den streit­lu­sti­gen und bis­wei­len zur Selbst­de­mon­ta­ge nei­gen­den Genos­sen, die sich an ihrem Wie­der­auf­stieg berausch­ten, ein süßes Gift? Wie geht der Kan­di­dat psy­chisch damit um, nach dem Rake­ten­start und Medi­en­hype nun wie­der auf dem har­ten Boden des poli­ti­schen Tages­ge­schäfts gelan­det zu sein? Die­se Fra­gen dis­ku­tier­te Man­fred Otzel­ber­ger im Anschluss mit Anet­te Kram­me, die Schulz schon aus dem Par­tei­vor­stand kennt. Der Rhein­län­der sei ein Mensch mit star­kem Cha­rak­ter, unbeug­sam und furcht­los. Er zei­ge Warm­her­zig­keit und Wert­schät­zung sei­nen Mit­men­schen gegen­über und ist per­sön­lich ein ange­neh­mer und sym­pa­thi­scher Mensch, so Kram­me. Des­halb habe er auch 100 Pro­zent bekom­men, im Gegen­satz zu sei­nem Vor­gän­ger Sig­mar Gabriel.

Den Ein­bruch in den Umfra­gen erklär­te Kram­me mit den drei ver­lo­re­nen Land­tags­wah­len und dem Ein­druck, dass die SPD inhalt­lich erst spät kon­kret wur­de – auch wenn die Uni­on noch län­ger brauch­te. „Das hat der Pres­se zu lan­ge gedau­ert und das hat sie Mar­tin Schulz spü­ren las­sen“. Sie traue der SPD für die Bun­des­tags­wahl viel zu, Ange­la Mer­kel, neben der sie manch­mal am Kabi­netts­tisch als Ver­tre­te­rin von Arbeits­mi­ni­ste­rin Andrea Nah­les sit­ze, sei aber eine har­te Geg­ne­rin: „Sie hat alle Kri­sen bewäl­tigt, auch wenn man nicht den Ein­druck hat­te, dass sie das wirk­lich steu­ern konn­te. Sie besitzt zwar kei­ne rhe­to­ri­sche Aus­strah­lung, aber sie beherrscht auch die Kunst, schwie­ri­ge Situa­tio­nen aus­zu­sit­zen. Das ist aber nicht das Ding von Mar­tin Schulz, er ist ein Macher, der schwie­ri­ge Din­ge beherzt anpackt“.

Nach reger Dis­kus­si­on wur­de deut­lich, dass Mar­tin Schulz die poli­ti­sche Land­schaft in Deutsch­land bewegt wie lan­ge nie­mand mehr vor ihm. „Die SPD muss sich ein Wun­der zutrau­en und attackie­ren. Noch gibt es kei­ne Wech­sel­stim­mung, Schulz liegt zurück, aber er hat ein ähn­lich gro­ßes poli­ti­sches For­mat wie Ange­la Mer­kel und wird alles geben. Schon beim Fuß­ball galt er als Kampf­schwein, das sind die, die nie auf­ge­ben“, mein­te Otzel­ber­ger. Und da sich ein Drit­tel der Wäh­ler erst in der Woche vor der Wahl ent­schei­de, sei das Ren­nen immer noch offen.