Welt­re­kord: die Abstim­mungs­re­geln des EU-Mini­ster­rats aus spiel­theo­re­ti­scher Sicht

Symbolbild Bildung

Die im EU-Ver­trag von Lis­sa­bon fest­ge­leg­ten Abstim­mungs­re­geln wei­sen, wenn sie spiel­theo­re­tisch inter­pre­tiert wer­den, eine außer­or­dent­lich hohe und welt­weit ein­ma­li­ge Kom­ple­xi­tät auf. Zu die­sem Ergeb­nis kom­men Wis­sen­schaft­ler der Uni­ver­si­tät Bay­reuth in einem Bei­trag für die Fach­zeit­schrift „Opti­mizati­on Letters“.

Der Rat der Euro­päi­schen Uni­on – oder kurz: der EU-Mini­ster­rat – hat eine ent­schei­den­de Funk­ti­on bei der Gesetz­ge­bung der EU. Jedes EU-Mit­glieds­land ist in die­sem Gre­mi­um durch jeweils einen Ver­tre­ter reprä­sen­tiert. Die kon­kre­te Zusam­men­set­zung des EU-Mini­ster­rats wech­selt; je nach­dem, in wel­chen Poli­tik­be­rei­chen Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den. In vie­len Fäl­len neh­men nicht die Staats- und Regie­rungs­chefs, son­dern die Fach­mi­ni­ster eines bestimm­ten Res­sorts an der Abstim­mung teil.

Das Prin­zip der „dop­pel­ten Mehrheit“

Im EU-Ver­trag von Lis­sa­bon ist fest­ge­legt, wie der EU-Mini­ster­rat abstim­men muss, damit eine gül­ti­ge Mehr­heits­ent­schei­dung zustan­de kommt. Die neue Rege­lung, die 2014 inkraft trat, berück­sich­tigt die sehr unter­schied­li­che Bevöl­ke­rungs­stär­ke der EU-Mit­glieds­län­der. Wann immer der Rat über einen Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on oder des Hohen Ver­tre­ters der EU für Außen- und Sicher­heits­po­li­tik abstimmt, ist eine „dop­pel­te Mehr­heit“ erfor­der­lich. Die­se ist gege­ben, wenn zwei Bedin­gun­gen erfüllt sind: (a) 55 Pro­zent der Rats­mit­glie­der, also der Staats- und Regie­rungs­chefs oder der Fach­mi­ni­ster, stim­men für den Vor­schlag; (b) der Vor­schlag wird von Rats­mit­glie­dern unter­stützt, die min­de­stens 65 Pro­zent der Bevöl­ke­rung der Euro­päi­schen Uni­on vertreten.

Zudem wer­den Bedin­gun­gen für eine Ableh­nung for­mu­liert: Ein Vor­schlag ist nur dann abge­lehnt, wenn min­de­stens vier Rats­mit­glie­der mit „nein“ stim­men. Die Ver­tre­ter von drei bevöl­ke­rungs­rei­chen Län­dern ver­fü­gen daher, auch wenn sie zusam­men mehr als 35 Pro­zent der Bevöl­ke­rung der EU reprä­sen­tie­ren, noch nicht über die nöti­ge Stim­men­zahl, um einen Beschluss zu ver­hin­dern. Dar­aus folgt, wenn man die gegen­wär­ti­ge Anzahl von 28 Mit­glieds­län­dern mit ihrer jewei­li­gen Bevöl­ke­rungs­stär­ke zugrun­de legt: Ein Vor­schlag ist auch dann ange­nom­men, © wenn min­de­stens 25 Rats­mit­glie­der zustimmen.

Das Ziel: eine neue For­ma­li­sie­rung auf spiel­theo­re­ti­scher Grundlage

In der Ent­schei­dungs- und Spiel­theo­rie, deren Anfän­ge in die 1920er Jah­re zurück­rei­chen, wer­den unter ande­rem auch Abstim­mungs­ver­fah­ren mit­hil­fe mathe­ma­tisch-logi­scher Model­le ana­ly­siert. Prof. Dr. Ste­fan Napel und PD Dr. Sascha Kurz, die an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth auf Gebie­ten der Mikro­öko­no­mie und der Wirt­schafts­ma­the­ma­tik for­schen, haben jetzt erst­mals die im Lis­sa­bon-Ver­trag fest­ge­leg­ten Regeln für Abstim­mun­gen im EU-Mini­ster­rat genau­er unter­sucht. Für deren Logik ist zunächst ein­mal eine Kom­bi­na­ti­on von „und“ und „oder“ cha­rak­te­ri­stisch: Ein Vor­schlag ist ange­nom­men, wenn (a) und (b) der Fall ist oder wenn © der Fall ist. Somit sind einer­seits (a) und (b) in Kom­bi­na­ti­on und ande­rer­seits © jeweils hin­rei­chen­de Bedin­gun­gen für einen gül­ti­gen Mehrheitsbeschluss.

Die Bay­reu­ther Wis­sen­schaft­ler haben nun Berech­nun­gen dar­über ange­stellt, wie sich die­se Regeln auf der Grund­la­ge einer spiel­theo­re­ti­schen Inter­pre­ta­ti­on neu for­ma­li­sie­ren las­sen. Die ange­streb­te logi­sche Form ist eine Ket­te not­wen­di­ger Bedin­gun­gen, die in ihrer Sum­me hin­rei­chend für die Annah­me eines Vor­schlags sind. Jede not­wen­di­ge Bedin­gung ent­hält ein Kri­te­ri­um dafür, dass in genau einer Hin­sicht eine Mehr­heit vor­liegt. Die­se kann, muss sich aber nicht auf die Grö­ße der EU-Mit­glieds­län­der beziehen.

Eine welt­weit ein­ma­li­ge Komplexität

Für die Kom­ple­xi­tät eines Abstim­mungs­ver­fah­rens gibt es bei einer sol­chen spiel­theo­re­ti­schen Inter­pre­ta­ti­on eine kla­re Defi­ni­ti­on: näm­lich die Min­dest­an­zahl der Mehr­heits­kri­te­ri­en, die mit­ein­an­der kom­bi­niert wer­den müs­sen, damit am Ende eine gül­ti­ge Rats­ent­schei­dung her­aus­kommt. In der Spiel­theo­rie wird die­se Min­dest­an­zahl als Dimen­si­on der Abstim­mungs­re­geln bezeich­net. Die Berech­nun­gen der Bay­reu­ther Wis­sen­schaft­ler haben ein über­ra­schen­des Ergeb­nis zuta­ge geför­dert: Die Dimen­si­on der Abstim­mungs­re­geln, wie sie im Ver­trag von Lis­sa­bon für den EU-Mini­ster­rat fest­ge­legt wur­den, beträgt min­de­stens 7.

„Mit die­sem Wert liegt der EU-Mini­ster­rat welt­weit an der Spit­ze aller natio­na­len oder inter­na­tio­na­len poli­ti­schen Ent­schei­dungs­gre­mi­en“, erklärt Prof. Napel, der als Inha­ber des Lehr­stuhls für Mikro­öko­no­mie am Pro­fil­feld „Gover­nan­ce & Respon­si­bi­li­ty“ der Uni­ver­si­tät Bay­reuth betei­ligt ist, und fügt hin­zu: „Jeden­falls ist in der ein­schlä­gi­gen For­schungs­li­te­ra­tur kein ande­res Gre­mi­um bekannt, des­sen Abstim­mungs­re­geln – spiel­theo­re­tisch gese­hen – eine der­art hohe Kom­ple­xi­tät auf­wei­sen. Die EU hat in die­ser Hin­sicht einen Welt­re­kord aufgestellt.“

Kein Urteil über die poli­ti­sche Zweckmäßigkeit

Der Bay­reu­ther Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler legt aber zugleich Wert auf die Fest­stel­lung, dass die­ser spiel­theo­re­ti­sche Befund nichts über die poli­ti­sche Zweck­mä­ßig­keit der im EU-Mini­ster­rat prak­ti­zier­ten Abstim­mungs­re­geln aus­sagt. „Als die Staats- und Regie­rungs­chefs der EU sich auf den Ver­trag von Lis­sa­bon geei­nigt haben, waren sie offen­sicht­lich bestrebt, ver­schie­de­ne Zie­le unter einen Hut zu brin­gen: Der Mini­ster­rat soll­te nicht von einer Koali­ti­on der bevöl­ke­rungs­rei­chen Län­der Deutsch­land, Frank­reich und Ita­li­en blockiert wer­den kön­nen. Zugleich soll­te gewähr­lei­stet sein, dass die­je­ni­gen Regie­run­gen, die einem neu­en Vor­schlag zur Mehr­heit ver­hel­fen, eine gro­ße Mehr­heit der in der EU leben­den Bevöl­ke­rung hin­ter sich haben. Unter poli­tisch-psy­cho­lo­gi­schen Aspek­ten war es daher ver­mut­lich sogar klug, das Abstim­mungs­ver­fah­ren so zu regeln, dass ver­schie­de­ne hin­rei­chen­de Bedin­gun­gen durch ein ‚oder‘ ver­knüpft wer­den. Erst spiel­theo­re­ti­sche Berech­nun­gen las­sen die Kom­ple­xi­tät erken­nen, die man sich auf die­se Wei­se ein­han­delt“, so Prof. Napel.

Wei­te­re Berech­nun­gen sind erforderlich

Den exak­ten Wert für die Dimen­si­on der Abstim­mungs­re­geln konn­te das Bay­reu­ther Autoren­team noch nicht bestim­men. „Dafür sind wei­te­re umfang­rei­che Berech­nun­gen erfor­der­lich, die viel­leicht sogar zu dem Ergeb­nis füh­ren wer­den, dass der Wert weit ober­halb von 7 liegt“, erklärt der Wirt­schafts­ma­the­ma­ti­ker Dr. Sascha Kurz. „Wir kön­nen der­zeit mit Gewiss­heit nur sagen, dass er nicht unter­halb von 7 liegt. Mit unse­rer Ver­öf­fent­li­chung wol­len wir die fach­wis­sen­schaft­li­che ‚com­mu­ni­ty‘, die sich mit der spiel­theo­re­ti­schen Ana­ly­se poli­ti­scher Abstim­mungs­ver­fah­ren befasst, dazu anre­gen, die im EU-Mini­ster­rat gel­ten­den Regeln wei­ter zu ana­ly­sie­ren und ihre mathe­ma­ti­sche Kom­ple­xi­tät genau­er zu bestimmen.“

Ver­öf­fent­li­chung:

Sascha Kurz and Ste­fan Napel,
Dimen­si­on of the Lis­bon voting rules in the EU Coun­cil: a chall­enge and new world record,
in: Opti­mizati­on Let­ters, July 2015, DOI: 10.1007/s11590-015‑0917‑0