Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Neue Stu­die über Zugang zu medi­zi­ni­schen Dienst­lei­stun­gen: Wer soll bevor­zugt werden?

Symbolbild Bildung

Was die Deut­schen über die Gesund­heits­ver­sor­gung denken

Infol­ge des medi­zi­ni­schen Fort­schritts und des demo­gra­fi­schen Wan­dels in Deutsch­land zeich­net sich ab, dass medi­zi­ni­sche Dienst­lei­stun­gen künf­tig nicht allen Mit­glie­dern der Gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung jeder­zeit im gewünsch­ten Umfang zur Ver­fü­gung gestellt wer­den kön­nen. Eine neue Stu­die von Dr. Chri­sti­an Pfarr (Uni­ver­si­tät Bay­reuth) und Prof. Mar­lies Ahlert (Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg) zeigt, dass offen­bar ein erheb­li­cher Teil der Bevöl­ke­rung es gleich­wohl ablehnt, den Zugang zu the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men von bestimm­ten Pati­en­ten­ei­gen­schaf­ten abhän­gig zu machen. Auch ein ein­kom­mens­ab­hän­gi­ger Zugang zu einer bes­se­ren Gesund­heits­ver­sor­gung wird mehr­heit­lich abgelehnt.

Wenn medi­zi­ni­sche Güter und Dienst­lei­stun­gen knapp wer­den, wie soll dann bei­spiels­wei­se der Zugang zu auf­wän­di­gen Dia­gno­se- und Ope­ra­ti­ons­tech­no­lo­gien oder zu teu­ren Medi­ka­men­ten gere­gelt wer­den? Sind Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in jeder Situa­ti­on gleich zu behan­deln, oder gibt es Kri­te­ri­en, die neben medi­zi­ni­schen Indi­ka­to­ren eine Bevor­zu­gung recht­fer­ti­gen? Eben­so stellt sich die Fra­ge, ob sich wohl­ha­ben­de Bevöl­ke­rungs­schich­ten einen bes­se­ren Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung lei­sten kön­nen soll­ten. Über alle die­se Pro­ble­me wird seit vie­len Jah­ren in Wis­sen­schaft, Wirt­schaft und Poli­tik leb­haft dis­ku­tiert. Bis­lang war jedoch unklar, wie die Öffent­lich­keit über die damit ver­bun­de­nen Her­aus­for­de­run­gen denkt.

Eine reprä­sen­ta­ti­ve Daten­ba­sis: Das Inter­na­tio­nal Social Sur­vey Programme

Mit den Ein­stel­lun­gen in der deut­schen Bevöl­ke­rung befasst sich eine neue Stu­die, die Dr. Chri­sti­an Pfarr, Finanz- und Sozi­al­wis­sen­schaft­ler an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, und Prof. Dr. Dr. Mar­lies Ahlert, Pro­fes­so­rin für Mikro­öko­no­mie und Finanz­wis­sen­schaft an der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg, gemein­sam erar­bei­tet und kürz­lich im Euro­pean Jour­nal of Health Eco­no­mics ver­öf­fent­licht haben. Die Unter­su­chung stützt sich auf das Inter­na­tio­nal Social Sur­vey Pro­gram­me (ISSP). Die­se Initia­ti­ve lässt all­jähr­lich in vie­len Län­dern rund um den Glo­bus reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­gen zu aktu­el­len sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Fra­gen durch­füh­ren und stellt die so ermit­tel­ten Roh­da­ten öffent­lich zur Ver­fü­gung. In Deutsch­land wird das ISSP von der GESIS Ber­lin (Leib­niz Insti­tut for Social Sci­ence) koor­di­niert, für die Umfra­gen ist TNS Infra­test zuständig.

Im Jahr 2011 wur­den in das ISSP erst­ma­lig Fra­gen zum Umgang mit knap­pen Res­sour­cen im Gesund­heits­we­sen auf­ge­nom­men, die von 1.681 deut­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­gern – einer reprä­sen­ta­ti­ven Stich­pro­be – beant­wor­tet wur­den. „Der­ar­ti­ge Erhe­bun­gen sind unver­zicht­bar, um ein genaue­res Bild dar­über zu gewin­nen, wel­che Kri­te­ri­en den Umgang mit knap­pen Res­sour­cen aus der Sicht der Bevöl­ke­rung bestim­men soll­ten. Poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen zur Prio­ri­sie­rung im Gesund­heits­we­sen soll­ten nicht über die Köp­fe der Men­schen hin­weg getrof­fen wer­den“, so Dr. Chri­sti­an Pfarr.

Kri­te­ri­en der Prio­ri­sie­rung: nicht unab­hän­gig vom Eigennutz

Wie ist zu ver­fah­ren, wenn zwei Herz­pa­ti­en­ten in medi­zi­ni­scher Hin­sicht glei­cher­ma­ßen drin­gend eine Herz­ope­ra­ti­on benö­ti­gen, aber nicht zur sel­ben Zeit ope­riert wer­den kön­nen? Soll­te bei der Ent­schei­dung, wer zuerst ope­riert wird, ins Gewicht fal­len, ob ein Pati­ent Rau­cher oder Nicht­rau­cher ist, alt oder jung ist, Kin­der hat oder nicht? Die Ant­wor­ten der Befrag­ten sind nicht sel­ten von eigen­nüt­zi­gen Über­le­gun­gen gelei­tet – je nach­dem, wel­cher die­ser Kate­go­rien sie selbst ange­hö­ren. Ange­nom­men, einer der zwei Herz­pa­ti­en­ten ist Rau­cher, der ande­re Nicht­rau­cher: Dann votie­ren 31 Pro­zent der befrag­ten Nicht­rau­cher dafür, dass der Nicht­rau­cher zuerst eine Ope­ra­ti­on erhal­ten soll­te; 68 Pro­zent von ihnen erklä­ren hin­ge­gen, dass das Rauch­ver­hal­ten kein Grund sei, einen der bei­den Pati­en­ten zu bevor­zu­gen. Von den befrag­ten Rau­chern aber hal­ten 82 Pro­zent die­sen Unter­schied für irrele­vant, und deut­lich weni­ger – näm­lich nur 17 Pro­zent – mei­nen, dass der Nicht­rau­cher frü­her ope­riert wer­den solle.

Ein ähn­li­ches Bild ergibt sich, wenn über die bei­den Pati­en­ten nicht mehr bekannt ist, als dass der eine 30 und der ande­re 70 Jah­re alt ist. Von den Befrag­ten, die jün­ger als 50 Jah­re sind, wol­len 45 Pro­zent den jün­ge­ren Pati­en­ten bevor­zu­gen. Nur etwas mehr als die Hälf­te von ihnen – näm­lich 53 Pro­zent – hal­ten das Alter der Pati­en­ten bei der Ent­schei­dung, wer zuerst ope­riert wer­den sol­le, für irrele­vant. Bei den Befrag­ten im Alter ab 50 Jah­ren steigt die­ser Anteil auf 64 Pro­zent, wäh­rend nur noch 35 Pro­zent dem jün­ge­ren Pati­en­ten den Vor­zug geben wollen.

Weni­ger auf­fäl­lig sind die Unter­schie­de, wenn die Befrag­ten über die bei­den Pati­en­ten ledig­lich wis­sen, als dass der eine jun­ge Kin­der hat und der ande­re nicht. Die­ser Unter­schied sol­le kei­ne Rol­le spie­len, mei­nen 66 Pro­zent der Befrag­ten mit Kin­dern und 71 Pro­zent der Kin­der­lo­sen. Dass der Pati­ent mit jun­gen Kin­dern zu bevor­zu­gen sei, erklä­ren 33 bzw. 29 Pro­zent. Dabei sind deut­lich mehr Män­ner als Frau­en der Mei­nung, der Pati­ent mit Kin­dern sol­le vor­ran­gig behan­delt werden.

Grund­sätz­li­che Skep­sis gegen­über einer Prio­ri­sie­rung

Wenn es also um die Fra­ge geht, wel­che Kri­te­ri­en bei der Gewäh­rung knap­per medi­zi­ni­scher Dienst­lei­stun­gen ins Gewicht fal­len soll­ten, machen offen­bar nicht weni­ge Men­schen in Deutsch­land die eige­ne Ein­stel­lung davon abhän­gig, inwie­weit sie selbst die­se Kri­te­ri­en erfül­len oder nicht. Beson­ders signi­fi­kant ist für die Autoren der Stu­die aber ein ande­rer Befund: „Bei einer ver­tief­ten Aus­wer­tung der Daten hat sich gezeigt, dass 38 Pro­zent der Befrag­ten mei­nen, kei­nes der drei Kri­te­ri­en – Rauch­ge­wohn­hei­ten, Alter und zu ver­sor­gen­de Kin­der – sol­le für die Gewäh­rung einer mög­lichst früh­zei­ti­gen Herz­ope­ra­ti­on in Betracht gezo­gen wer­den. Dem­ge­gen­über sind nur 9 Pro­zent der Mei­nung, dass jedes die­ser Kri­te­ri­en berück­sich­tigt wer­den soll­te“, erklärt Dr. Chri­sti­an Pfarr. „In Deutsch­land scheint also eine ableh­nen­de oder skep­ti­sche Ein­stel­lung gegen­über einer Prio­ri­sie­rung im Gesund­heits­we­sen, die sich auf die drei genann­ten Pati­en­ten­ei­gen­schaf­ten bezieht, rela­tiv weit ver­brei­tet zu sein. Die Ver­ant­wort­li­chen in der Poli­tik, in medi­zi­ni­schen Ein­rich­tun­gen und im Ver­si­che­rungs­we­sen soll­ten daher mit öffent­li­cher Ableh­nung rech­nen, wenn sie es wegen der Alters­struk­tur der Bevöl­ke­rung, der Preis­ent­wick­lung im Gesund­heits­sek­tor und des medi­zi­ni­schen Fort­schritts eines Tages für gebo­ten hal­ten, Pati­en­ten­ei­gen­schaf­ten zu defi­nie­ren, an denen sich die Gewäh­rung knap­per medi­zi­ni­scher Dienst­lei­stun­gen ori­en­tie­ren sollte.“

Als unfair abge­lehnt: eine bes­se­re Gesund­heits­ver­sor­gung für Wohlhabende

Ist es fair, wenn sich Wohl­ha­ben­de eine bes­se­re gesund­heit­li­che Ver­sor­gung lei­sten kön­nen? Die Stu­die unter­teilt die Gesamt­heit der Befrag­ten in fünf Ein­kom­mens­grup­pen ein: In jeder Grup­pe sind weit über 60 Pro­zent der Befrag­ten der Mei­nung, der ein­kom­mens­ab­hän­gi­ge Zugang zu einer bes­se­ren Gesund­heits­ver­sor­gung sei unfair; ins­ge­samt tei­len 69 Pro­zent der Befrag­ten die­se Auf­fas­sung. Der Anteil der­je­ni­gen, die die­se Ein­kom­mens­ab­hän­gig­keit zumin­dest in gewis­ser Hin­sicht für fair hal­ten, steigt zwar mit wach­sen­den Ein­kom­men leicht an; er liegt aber selbst in der Grup­pe mit den höch­sten Ein­kom­men nur bei knapp 13 Prozent.

„In der deut­schen Bevöl­ke­rung gibt es offen­bar einen brei­ten Kon­sens dar­über, dass es unfair ist, wenn hohe Ein­kom­men einen pri­vi­le­gier­ten Zugang zu medi­zi­ni­schen Gütern und Dienst­lei­stun­gen gewähr­lei­sten“, resü­miert Prof. Mar­lies Ahlert. „Bei genaue­rer Aus­wer­tung der Daten zeigt sich aller­dings: Die eige­ne Ein­kom­mens­hö­he als sol­che hat kei­nen aus­schlag­ge­ben­den Ein­fluss dar­auf, ob die Befrag­ten wohl­ha­ben­den Bevöl­ke­rungs­schich­ten eine bes­se­re Gesund­heits­ver­sor­gung zuge­ste­hen wol­len. Viel ent­schei­den­der ist bei­spiels­wei­se, ob ihr eige­nes Ver­trau­en in das Gesund­heits­sy­stem stark ist und ob sie selbst eine pri­va­te zusätz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung abge­schlos­sen haben. Ist bei­des der Fall, wächst offen­bar die Bereit­schaft, einen ein­kom­mens­ab­hän­gi­gen Zugang zu einer ver­bes­ser­ten Ver­sor­gung zumin­dest teil­wei­se für fair zu halten.“

Län­der­ver­glei­che sind geplant

Der­zeit sind die Autoren dabei, die im Rah­men des Inter­na­tio­nal Social Sur­vey Pro­gram­me (ISSP) gewon­ne­nen Daten aus ande­ren Län­dern aus­zu­wer­ten. „Dann kön­nen wir die Ein­stel­lun­gen der Men­schen hin­sicht­lich einer Prio­ri­sie­rung im Gesund­heits­we­sen oder einer ein­kom­mens­ab­hän­gi­gen Gesund­heits­ver­sor­gung von Land zu Land zuein­an­der in Bezie­hung set­zen. Der­ar­ti­ge Ver­glei­che, bei­spiels­wei­se zwi­schen Deutsch­land und Groß­bri­tan­ni­en oder zwi­schen Deutsch­land und den Nie­der­lan­den, wer­den sicher zu auf­schluss­rei­chen Ergeb­nis­sen füh­ren“, so Dr. Chri­sti­an Pfarr.

Ver­öf­fent­li­chung:
Mar­lies Ahlert and Chri­sti­an Pfarr, Atti­tu­des of Ger­mans towards dis­tri­bu­ti­ve issues in the Ger­man health system, in: The Euro­pean Jour­nal of Health Eco­no­mics, May 2015, DOI 10.1007/s10198-015‑0693‑x