Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Sozia­le Eltern­schaft in Westafrika

Symbolbild Bildung

Wenn Kin­der nicht bei ihren leib­li­chen Eltern aufwachsen

In wei­ten Tei­len West­afri­kas ist es seit Jahr­hun­der­ten all­täg­lich, dass Kin­der nicht bei ihren leib­li­chen Eltern, son­dern bei Pfle­ge­el­tern auf­wach­sen. Dies gilt ins­be­son­de­re auch für die Baatom­bu, eine Volks­grup­pe im Nor­den Benins. In ihrer neu­en Mono­gra­phie „Sozia­le Eltern­schaft im Wan­del. Kind­heit, Ver­wandt­schaft und Zuge­hö­rig­keit in West­afri­ka“, die aus einer mehr als 20jährigen For­schungs­ar­beit her­vor­ge­gan­gen ist, zeich­net die Bay­reu­ther Sozi­al­an­thro­po­lo­gin Prof. Dr. Erd­mu­te Alber ein detail­lier­tes Bild des aus euro­päi­scher Sicht unge­wohn­ten Phä­no­mens der Kinds­pfleg­schaft. Dabei wirft sie Fra­gen auf, die auch für die Dis­kus­sio­nen um Fami­lie und Eltern­schaft in Euro­pa inter­es­sant sind.

„In der Mit­te der Gesell­schaft“: Kinds­pfleg­schaf­ten in Benin

„In Euro­pa und Ame­ri­ka gilt es heu­te als selbst­ver­ständ­lich, dass Kin­der zu ihren leib­li­chen Eltern gehö­ren und von die­sen ver­sorgt wer­den. Doch die­se Sicht­wei­se ist erst 150 Jah­re alt“, erklärt die Autorin. „Wäh­rend mei­ner For­schungs­auf­ent­hal­te hat sich deut­lich gezeigt, dass die Fami­li­en- und Ver­wandt­schafts­be­zie­hun­gen der west­afri­ka­ni­schen Baatom­bu von einer völ­lig ande­ren Tra­di­ti­on geprägt sind. Kin­der leben hier über vie­le Jah­re ganz selbst­ver­ständ­lich bei Pfle­ge­el­tern, ohne dass die leib­li­chen Eltern auf­grund von Kri­sen­si­tua­tio­nen genö­tigt wären, ihre Kin­der in deren Obhut zu geben. Die Begrif­fe ‚Sozia­le Eltern­schaft’ und ‚Kinds­pfleg­schaft’ sind – im Ver­gleich zu ande­ren Ter­mi­ni – noch am besten geeig­net, die­sen Sach­ver­halt zum Aus­druck zu brin­gen. Man muss dabei nur den Gedan­ken an medi­zi­nisch oder recht­lich begrün­de­te Aus­nah­me­si­tua­tio­nen fern­hal­ten und die sozia­le Eltern­schaft als eine aner­kann­te fami­liä­re Pra­xis verstehen.“

Kri­te­ri­en und Grün­de für die sozia­le Elternschaft

Wenn bei den Baatom­bu ein Kind von des­sen leib­li­chen Eltern in Pfle­ge gege­ben wird, wech­selt in der Vor­stel­lung aller Betei­lig­ten die sozia­le Zuge­hö­rig­keit des Kin­des. Es gehört nun zu einer erwach­se­nen Per­son, die in der Regel drei Kri­te­ri­en erfüllt: Sie hat das glei­che Geschlecht wie das Kind; sie ist mit dem Kind und sei­nen Eltern ver­wandt; dabei ist sie in der ver­wandt­schaft­li­chen Hier­ar­chie den Eltern des Kin­des übergeordnet.

Vor allem drei Grün­de ver­an­las­sen die leib­li­chen Eltern zur räum­li­chen Tren­nung von ihren Kin­dern: Zunächst soll der gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Zusam­men­halt inner­halb eines Fami­li­en­ver­ban­des gestärkt wer­den. Dar­über hin­aus ist bei den Baatom­bu die Vor­stel­lung ver­brei­tet, dass die sozia­le Eltern­schaft und die damit ver­bun­de­ne Distanz von der leib­li­chen Mut­ter den Rei­fungs­pro­zess der Kin­der för­dern. Hin­zu kommt die Auf­fas­sung, dass Kin­der kei­nen ange­mes­se­nen Respekt gegen­über den Hier­ar­chien inner­halb des Fami­li­en­ver­ban­des ent­wickeln, wenn sie in einer zu engen Bezie­hung zu ihren leib­li­chen Eltern leben.

Der Beginn der Kinds­pfleg­schaft: ein neu­er Lebensabschnitt

Die Kinds­pfleg­schaft beginnt in der Regel damit, dass Ver­wand­te, wel­che die Kri­te­ri­en für eine sozia­le Eltern­schaft erfül­len, ihr Inter­es­se gegen­über den leib­li­chen Eltern bekun­den. Es gilt als respekt­los, wenn die­se sich einer „Her­aus­ga­be“ ihres Kin­des ver­wei­gern. Die­se unge­schrie­be­nen Nor­men las­sen den Eltern wenig Spiel­raum, die Auf­stiegs­chan­cen ihrer leib­li­chen Kin­der durch die Aus­wahl von Pfle­ge­fa­mi­li­en zu beein­flus­sen. Den­noch gelingt ihnen dies oft­mals auf ver­deck­te Wei­se durch das früh­zei­ti­ge Knüp­fen geeig­ne­ter Kon­tak­te. Wie Erd­mu­te Alber zeigt, hat der Wech­sel eines Kin­des in eine Pfle­ge­fa­mi­lie, auch hin­sicht­lich der damit ver­bun­de­nen Ritua­le, Ähn­lich­kei­ten mit dem Wech­sel einer jun­gen Frau in die Fami­lie ihres Ehemannes.

Die Vor­stel­lung, die Kin­der könn­ten durch die lang­jäh­ri­ge Tren­nung von den leib­li­chen Eltern und Geschwi­stern trau­ma­ti­siert und in ihrer see­li­schen Ent­wick­lung gestört wer­den, liegt den Baatom­bu fern. Der­ar­ti­ge Lei­dens­er­fah­run­gen schei­nen ins­ge­samt eher sel­ten zu sein. „Als bemer­kens­wert erleb­te ich in den Gesprä­chen, dass die über­wie­gen­de Mehr­heit der erwach­se­nen ehe­ma­li­gen Pfle­ge­kin­der ihre Pfleg­schafts­er­fah­run­gen und die Zeit der Pfleg­schaft nicht bereut“, berich­tet die Autorin.

Ambi­va­lenz der bio­lo­gi­schen Elternschaft

Auf­fäl­lig ist bei den Baatom­bu die ambi­va­len­te Ein­stel­lung gegen­über der bio­lo­gi­schen Eltern­schaft. Einer­seits wer­den leib­li­che Kin­der als Aus­druck einer gelin­gen­den Ehe ange­se­hen; frei­wil­li­ge Kin­der­lo­sig­keit gilt als unvor­stell­bar oder sogar als unan­stän­dig. Nach der Über­ga­be der eige­nen Kin­der in eine Pfle­ge­fa­mi­lie behal­ten die bio­lo­gi­schen Eltern eine gewis­se sozia­le Funk­ti­on, bei­spiels­wei­se als Namens­ge­ber oder auch als Kri­sen­hei­mat. Ande­rer­seits schä­men sich Eltern vor einer Zur­schau­stel­lung ihrer Bin­dun­gen an ihre leib­li­chen Kin­der, wes­halb Frau­en frü­her vor­zugs­wei­se allein ent­ban­den. Emo­tio­na­le Bin­dun­gen wer­den öffent­lich nicht gezeigt, per­sön­li­che Kon­tak­te zu leib­li­chen Kin­dern im Ver­bor­ge­nen gehal­ten. Daher wer­den auch die Hei­ra­ten der Kin­der in der Regel von den sozia­len Eltern und nicht von den leib­li­chen Eltern arrangiert.

Eth­no­lo­gi­sche Feld­for­schung und per­sön­li­che Lebenserfahrungen

Die Bay­reu­ther Eth­no­lo­gin hat ihre detail­lier­ten For­schungs­er­geb­nis­se aus jahr­zehn­te­lan­gen Beob­ach­tun­gen, Gesprä­chen und auf­ge­zeich­ne­ten Lebens­ge­schich­ten gewon­nen. „Es ging mir dar­um, auf­merk­sam und beob­ach­tend am All­tag der Men­schen teil­zu­neh­men. Ich beglei­te­te sie bei Ver­wand­ten­be­su­chen, Zere­mo­nien und Festen und erleb­te Gebur­ten, Initia­ti­ons­ri­ten und Kon­flikt­si­tua­tio­nen mit“, so die Autorin. Vor die­sem Hin­ter­grund setzt sie sich kri­tisch mit Deu­tun­gen von Fami­li­en- und Ver­wandt­schafts­be­zie­hun­gen aus­ein­an­der, die bis­her in ihrem Fach domi­nier­ten und von der eth­no­lo­gi­schen For­schung ins­be­son­de­re in Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich geprägt sind.

Die neu­en Ana­ly­sen zur sozia­len Eltern­schaft in West­afri­ka sind aber nicht nur aus der distan­zier­ten Per­spek­ti­ve wis­sen­schaft­li­cher Feld­for­schung, son­dern auch aus pri­va­ten Erfah­run­gen und Bin­dun­gen her­vor­ge­gan­gen. Wäh­rend eines län­ge­ren For­schungs­auf­ent­halts bau­te die Bay­reu­ther Wis­sen­schaft­lern in einem Dorf der Unter­su­chungs­re­gi­on ein Haus und ent­wickel­te immer stär­ke­re Bezie­hun­gen zur Dorf­ge­mein­schaft. Sie selbst hat dabei – im Kon­trast zur tra­di­tio­nell gefor­der­ten Gleich­ge­schlecht­lich­keit von Pfle­ge­kin­dern – die sozia­le Eltern­schaft für den Sohn einer befreun­de­ten Fami­lie über­nom­men und des­sen Schul­bil­dung ermöglicht.

Sozia­le Eltern­schaft im poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Wandel

Seit dem Beginn der Kolo­ni­al­zeit bis heu­te haben sich die fami­liä­ren Bezie­hun­gen in Ben­in nicht uner­heb­lich gewan­delt. Unter dem Ein­fluss der fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­macht und spä­ter wie­der­um nach der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit änder­ten sich sowohl sozia­le Nor­men als auch die Pra­xis der Kinds­pfleg­schaft. Die­sen Ent­wick­lun­gen ist der letz­te Teil des Buches gewid­met, für den die Autorin zahl­rei­che Quel­len aus dem ben­i­ni­schen Natio­nal­ar­chiv aus­ge­wer­tet und die Lebens­ge­schich­ten sehr alter Men­schen her­an­ge­zo­gen hat. „Die Geschich­te der Kind­heit bei den Baatom­bu ist zugleich ein Teil der Geschich­te der sich wan­deln­den Staat­lich­keit und ihrer Wech­sel­wir­kung mit den sich wan­deln­den Fami­li­en­be­zie­hun­gen“, so die Autorin.

Eine wesent­li­che Bedin­gung des Wan­dels ist die Aus­dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen städ­ti­schen und länd­li­chen Lebens­for­men, aber auch der Zugang zu neu­en Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gien, die stän­di­ge Kon­tak­te zwi­schen den leib­li­chen Eltern und den Haus­hal­ten der Pfle­ge­el­tern ermög­li­chen. Die stei­gen­de Zahl von Kin­dern und Jugend­li­chen, die in den städ­ti­schen Zen­tren Benins eine Schu­le besu­chen oder eine beruf­li­che Aus­bil­dung absol­vie­ren, lässt es für die in den Dör­fern leben­den Ver­wand­ten zuneh­mend frag­lich erschei­nen, dass sich die Über­nah­me einer Kinds­pfleg­schaft heu­te noch ‚lohnt’. Der sozia­le Auf­stieg durch Bil­dung und Aus­bil­dung wirkt oft­mals einer lebens­lan­gen Bin­dung an die Pfle­ge­el­tern entgegen.

„For­men und Funk­tio­nen der sozia­len Eltern­schaft sind heu­te nicht mehr selbst­ver­ständ­lich gege­ben, son­dern müs­sen neu aus­ge­han­delt wer­den“, resü­miert Erd­mu­te Alber und kommt zu dem Schluss: „Ange­sichts der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der Kin­der in West­afri­ka bei ande­ren als den leib­li­chen Eltern auf­wach­sen, erschei­nen die deut­schen Dis­kus­sio­nen um die ‚Gefah­ren‘ der Kin­der­be­treu­ung oder auch die ver­meint­lich nega­ti­ven Effek­te von Patch­work-Fami­li­en in einem ganz ande­ren Licht.“

Hin­ter­grund-Info:

Die Baatom­bu leben größ­ten­teils im Nord­osten der Repu­blik Ben­in, in einer Regi­on, die unter dem histo­ri­schen Namen „Bor­gu“ bekannt ist und sich auch auf nige­ria­ni­sches Staats­ge­biet erstreckt. Vie­le Men­schen arbei­ten noch heu­te als Acker­bau­ern in Dör­fern, die in der Regel aus weni­gen Gehöf­ten bestehen. Zugleich aber ist die Zahl der Baatom­bu, die in den Städ­ten als Hand­wer­ker oder in moder­nen Aus­bil­dungs­be­ru­fen tätig sind, in den letz­ten Jahr­zehn­ten ste­tig gestie­gen. Eine Volks­zäh­lung im Jahr 2002 ergab, dass in Ben­in rund 564.000 Per­so­nen leben, die der Volks­grup­pe der Baatom­bu ange­hö­ren – ohne dass sie dabei eine homo­ge­ne eth­ni­sche Gemein­schaft bilden.

Ver­öf­fent­li­chung:

Erd­mu­te Alber,
Sozia­le Eltern­schaft im Wan­del. Kind­heit, Ver­wandt­schaft und Zuge­hö­rig­keit in Westafrika
Ber­lin 2014, 426 S.