Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Wie mecha­ni­sche Kräf­te die frü­he embryo­na­le Ent­wick­lung steu­ern – Licht­blatt­mi­kro­sko­pie führt zu neu­en bio­phy­si­ka­li­schen Erkenntnissen

Symbolbild Bildung

Wie orga­ni­sie­ren sich Embryo­nen im Anfangs­sta­di­um ihres Lebens? Bis­her wur­den vor allem bio­che­mi­sche Signal­we­ge dafür ver­ant­wort­lich gemacht, wie sich Zel­len wäh­rend der frü­hen embryo­na­len Ent­wick­lung räum­lich anord­nen. Dass dabei auch phy­si­ka­li­sche Kräf­te eine wesent­li­che Rol­le spie­len, haben Wis­sen­schaft­ler um Prof. Dr. Mat­thi­as Weiss am Lehr­stuhl für Expe­ri­men­tal­phy­sik I der Uni­ver­si­tät Bay­reuth jetzt gezeigt. Am Bei­spiel von Nema­to­den – genau­er: von Wür­mern der Spe­zi­es Cae­nor­hab­di­tis ele­gans – konn­ten sie nach­wei­sen: Die wech­sel­sei­ti­ge Absto­ßung embryo­na­ler Zel­len trägt wesent­lich zur funk­ti­ons­ge­rech­ten Ent­wick­lung des Orga­nis­mus bei, z.B. bei der frü­hen Aus­bil­dung der Körperachsen.

Bei den For­schungs­ar­bei­ten kam eine noch jun­ge Mikro­sko­pie­tech­nik zum Ein­satz, die soge­nann­te Licht­blatt­mi­kro­sko­pie (Sel­ec­ti­ve Pla­ne Illu­mi­na­ti­on Micro­sco­py, kurz: SPIM). Mit die­ser Tech­no­lo­gie las­sen sich viel­zel­li­ge Orga­nis­men wäh­rend ihrer Ent­wick­lung in Echt­zeit unter­su­chen, ohne dass die Licht­ein­strah­lung toxi­sche Wir­kung ent­fal­tet und dabei Zel­len schä­digt oder die Unter­su­chungs­er­geb­nis­se ver­fälscht. SPIM ermög­licht es, den Auf­bau eines Orga­nis­mus – wie bei­spiels­wei­se eines Embry­os – „scheib­chen­wei­se“ zu unter­su­chen. Dabei wird eine Schicht nach der ande­ren beleuch­tet und mikro­sko­pisch erfasst. Die so ent­ste­hen­den Bil­der wer­den schließ­lich zusam­men­ge­fügt, so dass eine drei­di­men­sio­na­le Rekon­struk­ti­on des gesam­ten Embry­os mit hoher räum­li­cher und zeit­li­cher Auf­lö­sung ent­steht. Das Bay­reu­ther For­schungs­team hat so die Embryo­nal­ent­wick­lung von Wür­mern der Spe­zi­es Cae­nor­hab­di­tis ele­gans prä­zi­se ver­fol­gen kön­nen. Dabei haben sie ins­be­son­de­re beob­ach­tet, wie sich die wach­sen­de Anzahl von Zel­len inner­halb des Orga­nis­mus anordnet.

„Zunächst haben wir beob­ach­tet, wie sich die neu ent­ste­hen­den Zel­len wäh­rend der frü­he­sten Ent­wick­lungs­pha­se der Wurm-Embryo­nen räum­lich bewe­gen. Dabei ist uns auf­ge­fal­len, dass sich die Bewe­gun­gen in ver­schie­de­nen Embryo­nen weit­ge­hend glei­chen“, erklärt Prof. Weiss. „Des­halb lag die Über­le­gung nahe, dass die­se Bewe­gun­gen mit einem phy­si­ka­li­schen Modell erklärt wer­den kön­nen, das aus­schließ­lich die mecha­ni­schen Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen den Zel­len berücksichtigt.“

Die­se Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Zel­len haben die Bay­reu­ther For­scher in einem Simu­la­ti­ons­mo­dell als rei­ne ela­sti­sche Absto­ßung dar­ge­stellt. Unter die­ser Annah­me fol­gen die Zell­be­we­gun­gen im Modell immer den glei­chen mecha­ni­schen Geset­zen: Sobald im Embryo durch Zell­tei­lung neue Zel­len ent­stan­den sind, befin­den sich die­se – weil die Scha­le des Embry­os nur wenig Platz bie­tet – zunächst in einer unkom­for­ta­blen Posi­ti­on. Sie sind auf engem Raum zusam­men­ge­quetscht und haben ent­spre­chen­de „Beu­len“. Genau die­se Ver­for­mung setzt absto­ßen­de mecha­ni­sche Kräf­te frei, die die Zel­len inner­halb des Embry­os an ihre neu­en Posi­tio­nen schub­sen. Die Zel­len kom­men dann zur Ruhe, wenn sie gleich­sam ent­spannt und ohne Defor­ma­tio­nen ihren jewei­li­gen Platz inner­halb des embryo­na­len Orga­nis­mus gefun­den haben. Die Zel­len ver­hal­ten sich also im Modell ähn­lich wie wei­che Gum­mi­bäl­le. Wer­den die Bäl­le gegen­ein­an­der­drückt, stre­ben sie aus­ein­an­der, um ein­an­der mög­lichst wenig zu verformen.

Damit sich das Modell mit den empi­ri­schen Ergeb­nis­sen der Licht­blatt­mi­kro­sko­pie direkt ver­glei­chen lässt, haben die Bio­phy­si­ker auch die expe­ri­men­tell beob­ach­te­te Dau­er der Zell­tei­lun­gen und die Aus­rich­tun­gen der Zell­tei­lungs­ach­sen in das Modell ein­be­zo­gen; zudem wur­den auch die Asym­me­trien der Zell­grö­ße berück­sich­tigt, die bei der Zell­tei­lung gele­gent­lich vorkommen.

Der Ver­gleich ergibt eine beein­drucken­de Über­ein­stim­mung: Die räum­li­chen Zell­be­we­gun­gen, wie sie das Modell vor­her­ge­sagt hat, stim­men mit den Bild­se­quen­zen, die mit­hil­fe der Licht­blatt­mi­kro­sko­pie ent­stan­den, her­vor­ra­gend über­ein. Die durch Zell­tei­lung neu ent­stan­de­nen Zel­len posi­tio­nie­ren sich inner­halb der Embry­os bis zur Pha­se der Gastru­la­ti­on immer so, dass sie ein­an­der mög­lichst wenig ver­for­men. Dabei sagt das Simu­la­ti­ons­mo­dell nicht nur alle End­po­si­tio­nen der Zel­len rich­tig vor­her, son­dern auch die Wege („Tra­jek­to­ri­en“), auf denen sie zu die­sen End­po­si­tio­nen gelan­gen. Und noch in wei­te­ren Punk­ten wer­den die Vor­her­sa­gen des Modells durch die mikro­sko­pi­schen Befun­de bestä­tigt: Der Wurm-Embryo nimmt im vier­zel­ligen Zustand immer eine schei­ben­ar­tig fla­che Form an. Die näch­ste Zell­tei­lung aus die­sem Zustand führt dazu, dass zwei Zel­len in unter­schied­li­che Rich­tun­gen gequetscht wer­den. Auf die­se Wei­se wird die Bauch-Rücken-Kör­per­ach­se des Wurms end­gül­tig festgelegt.

„Unse­re For­schungs­er­geb­nis­se bele­gen, dass die frü­he embryo­na­le Ent­wick­lung wesent­lich von mecha­ni­schen Kräf­ten gesteu­ert wird, was sich mit phy­si­ka­li­schen Model­len nicht nur wis­sen­schaft­lich beschrei­ben, son­dern auch weit­ge­hend vor­her­sa­gen lässt“, meint Prof. Weiss. „Die Licht­blatt­mi­kro­sko­pie eröff­net hier auch ein wei­tes Feld für quan­ti­ta­ti­ve Tests von Model­len, wie sie mit her­kömm­li­chen mikro­sko­pi­schen Tech­ni­ken kaum mög­lich waren.“

Ver­öf­fent­li­chung:

Rolf Fick­ent­scher, Phil­ipp Struntz, and Mat­thi­as Weiss,
Mecha­ni­cal Cues in the Ear­ly Embryo­ge­ne­sis of Cae­nor­hab­di­tis elegans,
in: Bio­phy­si­cal Jour­nal (2013), Volu­me 105, pp. 1805 – 1811
DOI: 10.1016/j.bpj.2013.09.005

Ansprech­part­ner:

Prof. Dr. Mat­thi­as Weiss
Lehr­stuhl für Expe­ri­men­tal­phy­sik I
Uni­ver­si­tät Bayreuth
D‑95440 Bayreuth
Tel.: +49 (0)921 55–2500 und ‑2501
E‑Mail: matthias.​weiss@​uni-​bayreuth.​de