Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Neue Stu­die zum Straßenverkehr

Symbolbild Bildung

Wenn Regel­lo­sig­keit sich als hoch­ef­fi­zi­ent erweist

Wer in Euro­pa mit dem Auto unter­wegs ist, erlebt einen hoch­gra­dig gere­gel­ten Stra­ßen­ver­kehr. Der Ver­kehr bewegt sich mei­stens auf deut­lich mar­kier­ten Fahr­strei­fen; Strei­fen­wech­sel die­nen dazu, das Fahr­ziel in mög­lichst kur­zer Zeit auf einem mög­lichst kur­zen Weg zu errei­chen. In ande­ren Regio­nen der Welt hin­ge­gen, bei­spiels­wei­se in man­chen asia­ti­schen Metro­po­len, ist die Ord­nung im Stra­ßen­ver­kehr viel schwä­cher aus­ge­prägt. Hier gehört es vie­ler­orts zum all­täg­li­chen Fahr­stil, auf vor­ge­ge­be­ne Fahr­strei­fen kei­ne Rück­sicht zu neh­men, so dass der Stra­ßen­ver­kehr nie oder nur zeit­wei­se in geord­ne­ten Bah­nen verläuft.

Auf den ersten Blick sieht ein der­ar­ti­ges Ver­kehrs­sy­stem chao­tisch und inef­fi­zi­ent aus. Prof. Dr.-Ing. Hei­ke Emme­rich, die an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth den Lehr­stuhl für Mate­ri­al- und Pro­zess­si­mu­la­ti­on lei­tet, und ihr Kol­le­ge Prof. Dr. Hamid Assa­di, der an der Tar­bi­at Moda­res Uni­ver­si­tät in Tehe­ran lehrt und zur­zeit am Max-Planck-Insti­tut für Eisen­for­schung in Düs­sel­dorf tätig ist, woll­ten es jedoch genau­er wis­sen. Gemein­sam haben sie ein kom­ple­xes Modell ent­wickelt, das es ermög­licht, die Aus­wir­kun­gen einer mehr oder weni­ger aus­ge­präg­ten Fahr­strei­fen-Dis­zi­plin auf den Stra­ßen­ver­kehr zu berechnen.

Stra­ßen­ver­kehr ohne Fahr­strei­fen-Dis­zi­plin: unter Umstän­den intel­li­gent und hocheffizient

Die Ergeb­nis­se sind über­ra­schend: Falls sehr vie­le Fahr­zeu­ge unter­wegs sind, erweist sich ein unge­re­gel­tes System, in dem die Ver­kehrs­teil­neh­mer sich nicht an vor­ge­ge­be­ne Fahr­strei­fen hal­ten, son­dern offen­siv in jeweils freie Lücken vor­sto­ßen, als außer­or­dent­lich effi­zi­ent. Denn ein sol­ches Fahr­ver­hal­ten führt in der Sum­me dazu, dass pro Zeit­ein­heit eine gro­ße Zahl von Fahr­zeu­gen die Stra­ßen pas­sie­ren kann. Die wech­sel­sei­ti­ge Tole­ranz für unge­re­gel­tes Fahr­ver­hal­ten för­dert, eine sehr hohe Ver­kehrs­dich­te vor­aus­ge­setzt, den zügi­gen „Durch­satz“ der Fahr­zeu­ge. Sie ist inso­fern eine intel­li­gen­te Form, ein hohes Ver­kehrs­auf­kom­men zu bewältigen.

In eini­gen Berech­nun­gen hat sich her­aus­ge­stellt, dass ein völ­lig unge­re­gel­tes System mög­li­cher­wei­se sogar effi­zi­en­ter ist, als wenn alle Ver­kehrs­teil­neh­mer den vor­ge­ge­be­nen Fahr­strei­fen fol­gen. Die­se Berech­nun­gen bezie­hen sich wie­der­um auf eine sehr hohe Ver­kehrs­dich­te und beru­hen auf der Annah­me, dass die ein­zu­hal­ten­den Sicher­heits­ab­stän­de nicht für alle Fahr­zeu­ge und in allen Situa­tio­nen gleich sind, son­dern sich im flie­ßen­den Ver­kehr stän­dig ändern. Unter die­sen Umstän­den sorgt ein System, das sich für den Betrach­ter als kom­plet­tes Cha­os dar­stellt, in Wirk­lich­keit dafür, dass die Ver­kehrs­teil­neh­mer schnellst­mög­lich vorankommen.

Hal­be Ord­nung scha­det nur: Pro­ble­me bei der Ein­füh­rung eines gere­gel­ten Systems

Am wenig­sten effi­zi­ent sind dage­gen die­je­ni­gen Ver­kehrs­sy­ste­me, die eine Mischung aus Ord­nung und Unord­nung dar­stel­len. Wenn sich die eine Hälf­te der Ver­kehrs­teil­neh­mer dis­zi­pli­niert auf Fahr­strei­fen vor­wärts bewegt, wäh­rend die ande­re Hälf­te der­ar­ti­ge Vor­ga­ben igno­riert, kommt der Ver­kehr nur noch schlep­pend vor­an. Eine „hal­be“ Ord­nung ist daher für alle Betei­lig­ten schlech­ter als völ­li­ge Regellosigkeit.

Dies hat, wie die Autoren her­vor­he­ben, erheb­li­chen Ein­fluss auf Maß­nah­men, die dar­auf abzie­len, ein regel­lo­ses Ver­kehrs­ver­hal­ten in ein hoch­gra­dig gere­gel­tes Ver­kehrs­sy­stem zu über­füh­ren. Wenn sich nicht alle Ver­kehrs­teil­neh­mer schlag­ar­tig dem neu­en System unter­ord­nen, son­dern schritt­wei­se dafür gewon­nen wer­den müs­sen, bewir­ken der­ar­ti­ge Maß­nah­men zunächst ein­mal eine gerin­ge­re Effi­zi­enz. Dies wie­der­um kann, ins­be­son­de­re bei hoher Ver­kehrs­dich­te, schnell dazu füh­ren, dass die Ein­füh­rung des neu­en Systems schei­tert. Denn wenn Ver­kehrs­teil­neh­mer die Erfah­rung machen, dass die auf stär­ke­re Dis­zi­plin aus­ge­rich­te­ten Maß­nah­men ein zügi­ges Vor­an­kom­men behin­dern, sinkt ihre Moti­va­ti­on, durch eige­nes Ver­hal­ten ein hoch­gra­dig gere­gel­tes System zu unterstützen.

Nicht­li­nea­re Dyna­mik: Von Ver­kehrs­sy­ste­men zur Materialforschung

Das Modell, das Prof. Emme­rich und Prof. Assa­di spe­zi­ell für ihre Stu­die ent­wickelt haben, ist ein soge­nann­ter zel­lu­lä­rer Auto­mat. Mit die­sem Modell kön­nen sie mit Bezug auf unter­schied­li­che Gra­de der Ver­kehrs­dich­te ermit­teln, wie sich eine hohe oder eine gerin­ge Fahr­strei­fen-Dis­zi­plin auf die Effi­zi­enz des Gesamt­sy­stems aus­wirkt. Bei ihren Ent­wick­lungs­ar­bei­ten haben sie auf die Erfah­run­gen und Erkennt­nis­se zurück­ge­grif­fen, die sie in mate­ri­al­wis­sen­schaft­li­chen Pro­jek­ten gewon­nen haben. „In bei­den Fäl­len haben wir es mit einer nicht­li­nea­ren Dyna­mik zu tun, die sich nur mit wirk­lich­keits­na­hen, auf die Viel­falt der mög­li­chen Situa­tio­nen zuge­schnit­te­nen Ver­fah­ren ange­mes­sen beschrei­ben lässt“, erklärt Prof. Emme­rich. „Ob es sich bei den ‚Ein­hei­ten’, die zu die­ser Dyna­mik bei­tra­gen, um Nano­par­ti­kel oder um Kraft­fahr­zeu­ge han­delt, ist auf der abstrak­ten Ebe­ne der Model­lie­rung zweitrangig.“

In ihrer wis­sen­schaft­li­chen Lauf­bahn hat die Bay­reu­ther Wis­sen­schaft­le­rin eine Brücke von Ver­kehrs­sy­ste­men zur Mate­ri­al­for­schung geschla­gen: Vor mehr als 15 Jah­ren hat sie im Fach Phy­sik mit einer Arbeit zur „Simu­la­ti­on im Stra­ßen­ver­kehr mit zel­lu­lä­ren Auto­ma­ten“ pro­mo­viert. Heu­te liegt der Schwer­punkt ihrer For­schun­gen auf Simu­la­ti­ons­ver­fah­ren, die dazu bei­tra­gen, die Belast­bar­keit von indu­stri­ell gefer­tig­ten Bau­tei­len zu opti­mie­ren – sei es durch neu­ar­ti­ge metal­li­sche Legie­run­gen, sei es durch scho­nen­de­re Herstellungsverfahren.

Ver­öf­fent­li­chung:

Hamid Assa­di and Hei­ke Emmerich,
Intel­li­gent dri­ving in traf­fic systems with par­ti­al lane discipline,
In: Euro­pean Phy­si­cal Jour­nal B (2013) 86: 178
DOI: 10.1140/epjb/e2013-30511–0