Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 94

Knorr in Hannover

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Nur zehn Pfennige pro Stunde kostete es, die Tasche der Gepäckaufbewahrung anzuvertrauen. Hans zahlte mit einem neuen Halbmarkschein seiner Mutter, bekam den rosa Zettel mit der Gepäcknummer und vier Zehnpfennigscheinchen als Wechselgeld. Sie waren blau und sahen so ähnlich aus, wie das Spielgeld, mit dem er früher in der Sedanstraße als Kind immer Kaufmannsladen gespielt hatte.

Über die große Freitreppe gingen sie aus dem Bahnhof hinaus.

Die Fassaden angrenzender Häuser waren mit den Narben von Bombensplittern und Einschüssen der Bordwaffen übersät und entstellt. Verbretterte Ruinenfelder hatten sie hinter sich gelassen und schlenderten an Schaufenstern vorbei. Lang entbehrte und heiß ersehnte Waren. Sorgfältig geordnet und ansprechend drapiert. Steingutgeschirr mit blumigen Mustern, schwarz emaillierte Einwecktöpfe samt Kochthermometer im Deckel, vernickelte Schlagsahnebesen mit praktischer Handdrehkurbel und überstrumpfte Glasbeine ließen Hedwigs hausfrauliche und frauliche Instinkte aufleben.

Jank suchte vergeblich nach einer kobaltblauen und innen vergoldeten Mokkatasse. Den Anblick seines kläglich zusammengeschmolzenen Kleinods nach dem Brandbombenangriff hatte er nie vergessen können.

Inzwischen war Mill auf die andere Seite dieser engen Altstadtstraße gegangen. Ein unzerstörtes Haus mit einem kleinen Schaufenster hatte ihn angezogen. KOLONIALWAREN – dieses geheimnisvolle Wort lockte ihn ganz besonders. Neben einer Packung Kaffee mit lustigen, blauen Punkten lag eine Wurst von makelloser Schönheit. Sie leuchtete in weißer Hülle mit schwarz-rot-grüner Banderole. Er drehte sich nach der Mutter um. Die war mit den Brüdern schon ein kleines Stück vorausgegangen. Er rief ihr zu, ob er sich mit seinem neuen Markschein eine Wurst kaufen könne.

Hedwig nickte, blieb stehen und wartete.

Mill drückte die abgegriffene Messingklinke und bewunderte im selben Moment das Glockenspiel der Tür. Mit großen Augen stand er dann vor dem hohen Ladentisch. Klobige Bonbongläser in verführerischen Farben und ganze Stapel von Schokoladetafeln mit goldenen Buchstaben präsentierten sich dahinter. Wandregale bis zur Decke vollgepfropft mit verpackten Waren. Doch sein sehnlicher Wunschblick suchte die schönste und beste Wurst seines Lebens. Da, an einem Holzstab, der aus dem hohen Wandregal herausragte, hing sie. Zusammen mit mehreren anderen. In diese Kostbarkeit von Wurst würde er seine Mutter hineinbeißen lassen. Dann wäre alles wieder so, wie es vor der Pferdewurst gewesen war. Eine ältere Frau schob den schmalen, roten Filzvorhang zur Seite und stieg langsam die drei Holzstufen herab. Jetzt erkannte er auch, dass sie einen Stock zum Gehen brauchte.

„Und was wünscht der junge Mann?“
„Ich möchte die Wurst da oben.“

Mit weit ausgestrecktem Arm deutete er hinauf, stellte sich dazu noch auf die Zehenspitzen. Sie nahm eine Holzstange zur Hand, an der ein kleiner Haken zu erkennen war. Damit holte sie die Traumwurst des Jungen aus luftiger Höhe herab. Auf ihre freundliche Frage, ob er denn sonst noch einen Wunsch habe, schüttelte er den Kopf.

„Das macht einsdreißig.“

Sie sah seinen blauen Markschein, den er immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und blickte in ein verlegenes Gesicht. Solche ratlosen Kinder hatten schon oft im Laden vor ihr gestanden.

Geld zu haben und es reicht nicht – da konnte er wirklich nur so hilflos dastehen, wie er es gerade jetzt tat. Der Gedanke, sich von seiner Mutter die restlichen dreißig Pfennige zu holen, war ihm versperrt.

Die Frau hielt ihm die Wurst über den Ladentisch und lächelte.

„Na, dann für dich eine Mark.“

Verdattert griff er nach seiner Wurst, wich ihrem freundlichen Blick aus, legte den Markschein hin und ging hinaus, ohne sich zu bedanken. Er rannte vom Laden weg, so schnell er konnte und achtete nicht mehr auf die anheimelnde Melodie des Glockenspiels an der Tür. Schräg gegenüber wartete Hedwig schon mit seinen Brüdern. Drüben angekommen gab er seiner Mutter die Wurst zum Bestaunen und Abbeißen. Erwartungsvoll schaute er zu ihr hoch.

„Jeduttnee, du hast dir ja eine Erbswurst von Knorr gekauft! Da draus kann man zehn Teller Erbsensuppe kochn. Das ist gepresstes Erbsenmehl. Muss man mit Wasser aufkochn. Steht ja hier auch ganz groß auf der Verpackung.

„Ergibt zehn Portionen.“

Seine Brüder hielten Stangen mit Karamellbonbons in den Händen und konnten sich ihr Grinsen nicht verkneifen. Hedwig bemühte sich, ihm über seine beginnende Achtlippe hinwegzuhelfen und versuchte, den misslungenen Kauf in eine gute Idee umzumünzen. Es sei doch ganz praktisch, denn jetzt könnte sie ja für alle gleich eine warme Suppe kochen, sobald sie in Coburg wären.

Dass er sie dreißig Pfennige billiger bekommen hatte, verschwieg er ihr. Ohne Dank war er aus dem Laden der freundlichen Frau weggegangen. Das fiel ihm gerade ein. Auf dem Rückweg zum Bahnhof verweigerte er einen Karamelbonbon von Wolfgang und machte das miesepetrige Schlusslicht.

Vorsichtig riss er ein zusammengedrehtes Wurstende wieder auf, wollte den Inhalt noch einmal überprüfen. Eine grünlich-gelbliche Walze, in viele kleinere Walzen unterteilt, kam zum Vorschein. Es roch streng nach Erbsensuppe. Er nagte davon etwas ab. aber auch der Geschmack hatte nichts von einer Wurst. Das Zeug setzte sich zwischen den Backenzähnen fest. Er musste sich räuspern, weil ihn das Erbsenmehl tief hinten im Hals so kratzte. Jetzt las er auch selbst die Aufschrift Knorr’s Erbswurst. Die bunte Umhüllung hatte mit einem Mal ihre Schönheit verloren. Den papierenen Wurstzipfel drehte er notdürftig zu und holte auf. Hedwig spürte, wie er seinen missglückten Kauf in ihre Manteltasche schob.

Die von Einschüssen und Splittern zernarbten Häuserfassaden kamen wieder in Sicht, dann die gerüstumbaute Bahnhofsruine. In einer gesperrten Seitenstraße ragten aus einem Schutthaufen fünf zusammengenagelte, schon etwas verwitterte Bretterkreuze. Jank war schon unter der Absperrung durchgekrochen, um die Namen darauf zu lesen. Mit scharfem Ruf zwang Hans ihn zurück, deutete wütend auf das Holzschild mit Totenschädel und gekreuzten Knochen.

„Dir hamse wohl ins Gehirn geschissn!“

Er kramte die Marke für die Gepäckaufbewahrung hervor. Ein schwerer Lastzug mit Ziegelsteinen donnerte an ihnen vorbei und hüllte sie in eine dichte Staubwolke. Wolfgang beschloss, nie mehr Jank zu heißen.
Bevor sie die Bahnhofstreppe hochstiegen, ließ Hedwig alle halten.

„Joachimwolfganghans! Wir sind im Westn!“

Weit hinten im Hals spürte Mill immer noch, wie ihn die Erbswurst kratzte.

Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.

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