Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 93
Westgeld und Pferdewurst
Ständig hielt sie Ausschau nach einem Schaffner. Ohne gültige Fahrkarte zu fahren, so etwas rangierte bei ihr unter Unehrenhaftigkeit, Betrug und Diebstahl. Als dann endlich der Mann mit dem Ledertäschchen im Gang auf sie zukam, winkte sie ihn herbei, denn schon das Nachlösen einer Fahrkarte hatte bei ihr einen Hauch von auf frischer Tat ertappt. Endlich hielt sie vier Karten in der Hand. Sie wollte mit ihrem Drahnsdorfer Geld zahlen. Der Schaffner blickte nur kurz darauf, hob beide Hände mit dem Ausdruck des Bedauerns, schüttelte den Kopf und sagte irgendetwas, das vom Rauschen der Schienen verschluckt wurde. Dann machte er eine leicht wegwerfende Handbewegung und meinte, heute wolle er mal eine Ausnahme machen. Zwar sei er einerseits Beamter, andererseits schließlich auch Mensch und tue das halt für die Kinder. Dafür gab er ihr aber nur einen Bruchteil des Wechselgeldes. Hedwig wusste nicht, ob sie dem Mann nun danken oder ihm an die Gurgel gehen sollte.
Hans hatte das Wort Hannover mitbekommen. Für Mill und Jank reichte es, dass sie jetzt im Westen auf einer Schiene fuhren. Noch waren beide viel zu müde, als dass sie die leeren Mägen hätten spüren können. Bald holten sich ihre schmächtigen Körper den gestohlenen Schlaf mit Macht wieder zurück.
Jetzt reichte sie Hans einen Schein des Wechselgeldes, das ihr der Schaffner ausgehändigt hatte. Die Vorderseite der Banknote strahlte in einem kühlen Grün. Alle vier Ecken zeigten den Zahlenbruch 1/2 mit schrägem Bruchstrich in vier kunstvoll geschnörkelten Bildrahmen. Die Rückseite gefiel ihm noch besser. In einer ovalen, mit Lorbeerzweigen verzierten Muschelschale zog ein prächtiges 1/2 den Blick auf sich. Blaue Strahlen liefen von der rostbraunen Mitte bis zur prächtig verzierten Umrandung. Das Geld schien von den Händen, durch die es bisher gegangen war, mit Respekt behandelt worden zu sein. Abgesehen von ihrer Mittelfaltung, sah die Banknote nagelneu aus.
Eigentlich hatte Hans das neue Westgeld schon bei Frau Snura gesehen. Es waren aber bisher immer nur die kupfernen Pfennige, Messinggroschen und Fünfer, seltener die silbrig glänzenden Markstücke, die er von ihr zum Aufgeben der Drahnsdorfer Geheimpakete ausgehändigt bekam. Ihre beiden Söhne hatten schon einmal angeberisch mit den neuen Scheinen hantiert, aber er zwang sich, dabei gelassenes Desinteresse zu zeigen.
***
Er gab seiner Mutter den bewunderten Westgeldschein zurück.
Die knappen drei Stunden Schlaf hatten auch Hans den Rest gegeben. Der Kopf sank bald in das kunstseidene Innenfutter seiner Lederjacke, die an einem Haken beim Gepäcknetz hing.
Die Gewissheit, noch eine gute Stunde vor sich zu haben, legte langsam eine samtene Ruhe über Hedwig. Ein Blick der Mutterwachsamkeit streifte noch kurz die drei Tiefschläfer. Erst jetzt verkroch sich ihr Kopf unter dem Mantel und die übernächtigten Augen suchten darunter die Schwärze.
Die Stöße der Weichenübergänge wurden häufiger. Das Fahrrauschen wich einem sanfteren Wiegen. Rucksackschlepper und Aktentaschenträger drängten sich im leise ausrollenden Zug durch den Gang an der Mutter und ihren drei Söhnen vorbei zum Ausstieg. Aber erst der Anhalteruck und die gebieterisch klingenden Durchsagen der Bahnhofslautsprecher ließen sie aus ihrem tiefen Schlafsee wieder auftauchen.
Mäntel und Jacken an, Tasche schnappen und raus!
Hannover Bahnsteig drei.
Einigermaßen ausgeschlafen, aber fremd und unsicher waren sie. Eine junge Frau mit dem Häubchen und der Armbinde des Roten Kreuzes bugsierte einen gummibereiften Fahrradanhänger auf die unschlüssige Gruppe zu. Mill gab ihr das freundliche Lächeln verlegen zurück und las zugleich auf einem Pappschild Heißer Tee. Bald umklammerten sie beidhändig dickwandige Porzellantassen mit siedend heißem Tee, der auf dem Anhänger in vielen Thermoskannen vorrätig stand.
„Das is Pfefferminztee, habter euch schon bedankt?“
Hedwig fragte, obwohl sie es schon von jedem ihrer Jungen gehört hatte. Es war ihr peinlich, dass die Schwester so lange neben ihnen warten musste, bis alle vier brühheißen Tassen leergeschlürft waren.
Inzwischen hatte die junge Rotkreuzschwester ihr Gefährt auf ein ausklappbares Standbein gestellt und blickte höflich in eine andere Richtung. Der Inhalt der doppelt nachgeschenkten Tasse schwappte an Mills leere Magenwände und ließ ihn den Hunger auf etwas richtig Festes jetzt umso unbarmherziger spüren.
Mit ihrem Wechselwestgeld steuerte Hedwig einen Stand an, bei dem heiße Pferdewurst mit Semmeln angeboten wurde. Die Jungen schlangen alles hinunter. Nur ein Häppchen biss sie bei jedem ab. Mill beobachtete besorgt, ob sie bei ihm nicht mehr abbiss, als bei den Brüdern. Er sagte nichts, aber seine geizigen Augen hatten ihn verraten.
Hedwig ging auf eine Bretterbude zu, auf der WECHSELSTUBE stand.
Ein Polizist mit Pistole am Koppel stand davor. Nach einer Weile kam sie auf ihre Söhne zu, holte einen Schein des neu eingetauschten Westgeldes aus der Mantelinnentasche und zeigte ihn ihrem Ältesten. Hans nahm die Banknote fast ehrfurchtsvoll und hielt sie hoch, um nach einem Wasserzeichen zu suchen.
Wenn einer etwas wusste oder konnte, was andere nicht wissen oder nicht können, dann sagten Mill und Jank über denjenigen immer„Der hat Ahnung.“
Ihr Hans hatte Ahnung.
Jedem gab sie jetzt einen blauen Markschein. Hans steckte ihn ernst in die Reißverschlusstasche. Jank bewunderte die Banknote, wendete sie mehrmals und rollte sie fingerfertig zu einer dünnen Papierröhre, die er fast unsichtbar in seiner Hand verschwinden ließ. Mill betrachtete sie nur kurz und trug sie als blaues Papierfähnchen, weithin sichtbar zwischen Daumen und Zeigefinger. Sein besorgtes Gesicht beim Abbeißen des Pferdewursthäppchens war Hedwig nicht entgangen. Darum war er auch der Einzige, dem sie eine Kaufempfehlung für sein neues Geld gab.
„Davon kannst du dir heute eine Wurscht kaufen. Die is dann ganz für dich alleine.“
Das „dich“ betonte sie dabei besonders laut. Er hatte verstanden und nahm sich fest vor, nie mehr geizig zu schauen, wenn seine Mutter mal wieder etwas abbeißen würde.
Erst jetzt bemerkten sie, dass der Bahnhof im Krieg eigentlich in eine Ruine verwandelt worden war. Hölzerne Gerüstteile, mit Seilen straff verknotet, umgaben den Gebäuderest wie ein Stützkorsett. Lastwagen mit den dunklen Stahltonnen der Holzvergaser am Fahrerhaus karrten Bausteine, Kiesladungen und Arbeiter auf offener Ladefläche heran.
Englische Offiziere in eleganten Uniformen und blank gewienerten, braunen Stiefeln, das Lederstöckchen unter dem Arm, sprangen aus einer glänzenden Mercedes-Limousine. Sie wurden dabei im Vorübergehen stramm von unteren Mannschaftsdienstgraden gegrüßt. Eine hübsche, junge Frau in tailliertem Kostüm mit modischem Samthütchen und buschigem Fuchspelz um den Hals stolzierte an der Warteschlange des Fahrkartenschalters vorbei.
Hedwig war fast versucht, sich umzudrehen. Mit ihrem verfusselten Mantel, den abgelatschten Tretern mit den ausgebeulten Stellen an den Ballen und ihrem ungepflegten Haar kam sie sich als Frau ärmlich und schäbig vor. Sie würde wieder schön sein, eine Hautcreme haben und zu einem richtigen Friseur gehen. Das nahm sie sich vor.
Jetzt hatte sie ihre Karten bekommen, las sich noch einmal den Zettel mit den Zugverbindungen durch und sprach danach kurz einen Eisenbahner an. Mill war er aufgefallen, weil er ein Mädchen besonders langsam an der Hand mitführte.
Als er dann vor ihnen dem Ausgang zuging, merkte er, dass dieses Kind ein Holzbein trug. Das Kniegelenk schnappte bei ihr so laut ein. Er wagte es aber nicht, seine Brüder und die Mutter darauf aufmerksam zu machen.
Vor dem Auge der Erinnerung tauchte ihm das Bild vom Sunke mit seinem vereiterten Oberschenkelstumpf wieder auf und er stellte sich vor, dass unter dem karierten Rock des Mädchens ein Holzbein mit braunen Lederriemen festgeschnallt war.
Hedwig sagte, dass sie von jetzt an noch gut zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt hätten. Sie sollten aber schon eine Stunde vorher am Zug sein. Das habe ihr gerade der Eisenbahner mit dem Kind geraten. Sonst könnten sie sich nämlich im Zug die Beine in den Bauch stehen.
***
„Was hat er zu dir gesagt, der Rapp?“
Urplötzlich wollte Hans das jetzt von ihr wissen. Wenigstens einer ihrer Söhne hatte den Herrn Rapp nicht vergessen. In einem Moment, wo sich die beiden jüngsten Brüder staunend vom Bahnhofsgewirr ablenken ließen, flüsterte sie ihm kurz ins Ohr, was der Armamputierte ihr gesagt hatte, bevor er endgültig verschwunden war. Sie flüsterte nicht, weil es ein Geheimnis war. Sie flüsterte, um es vor dem Bahnhofschaos abzuschirmen und zu retten.
Hans blickte danach zu Boden. Er schüttelte bedächtig den Kopf. Sie sah ihn an und wusste, dass er begriffen hatte.
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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