Fort­set­zungs­ro­man: “Mamas rosa Schlüp­fer” von Joa­chim Kort­ner, Teil 46

Kriegs­heim­keh­rer auf Schmalspur

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Das ein­spu­ri­ge Gleis der Schmal­spur­bahn ver­lief direkt am Acker vor­bei. Es kam aus einer Rich­tung, die sie noch nicht erkun­det hat­ten und ende­te am Bahn­hof. Jank hat­te schon ein­mal auf Adel­heid Lettaus Fahr­rad her­aus­zu­fin­den ver­sucht, woher es über­haupt kam. Als ihm die Feld­we­ge dann zu san­dig wur­den und er das Rad nur noch schie­ben konn­te, gab er auf.

Das Gleis war in mise­ra­blem Zustand, mach­te aben­teu­er­li­che Krüm­mun­gen und Wöl­bun­gen. Zwei Loren lagen ent­gleist im Wege­gra­ben. Ein paar Gro­ße mit drei­zehn oder vier­zehn Jah­ren wuch­te­ten die bei­den Vehi­kel wie­der auf ihre ange­stamm­te Laufbahn.

Ein Bau­ern­jun­ge hol­te von der Dresch­ma­schi­ne sei­nes Vaters eine Ölkan­ne. Von einer Schmal­spur­lo­ko­mo­ti­ve war weit und breit nichts zu sehen. Doch eine Grup­pe von Winz­lin­gen rech­ne­te es sich zur Ehre an, den Gro­ßen die­nen zu dürfen.

Die erste Fahrt soll­te schon ein Ereig­nis wer­den. Die Pas­sa­gie­re ver­klei­de­ten sich. Sie leg­ten sich und ein­an­der rie­si­ge Kopf­ver­bän­de, Arm­ban­da­gen und Bein­schie­nen an. Mit den Vor­rä­ten aus dem geplün­der­ten Zug war das kein Pro­blem. Jodtink­tur konn­te ihre schnee­wei­ßen Ban­da­gen beson­ders kriegs­mä­ßig wir­ken las­sen. Eine Heim­kehr der Kriegs­ver­letz­ten roll­te an. Hel­den­haft ste­hend wur­den sie von ihren bereit­wil­li­gen Schie­bern auf Fahrt geschickt.

Die Lore hat­te Fahr­rad­ge­schwin­dig­keit erreicht. Jetzt end­lich konn­ten sich die klei­nen Schie­ber für ein paar Meter mit einem hal­ben Hin­tern auf die Kan­te set­zen und mit­rol­len. Wur­de es lang­sa­mer, dann scheuch­te sie das her­ri­sche „Schnel­ler!“ wie­der zum Schie­ben hin­un­ter neben das ver­wahr­lo­ste Gleis. Es gab beäng­sti­gen­de Geräu­sche von sich, rausch­te, vibrier­te, bog sich nach unten durch und quietsch­te in den gelocker­ten Schwel­len und Verschraubungen.

Nach der klei­nen Bie­gung erblick­ten die bis­her ahnungs­lo­sen Schie­ber nun den zwei­ten Teil der Insze­nie­rung. Auf einer blü­hen­den Som­mer­wie­se stan­den Mäd­chen mit lan­gem, gelö­stem Haar und Rot­kreuz­arm­bin­den. Sie hat­ten graue Wehr­machts­decken für ihre Hel­den aus­ge­legt. Alle Schie­ber durf­ten die letz­ten Meter, noch immer vor Anstren­gung keu­chend, auf der Lore ausrollen.

Zar­te Hän­de gelei­te­ten und stütz­ten die Hel­den zu den Decken. Dort nah­men ihnen die Schwe­stern ihre jun­gen­haft schlam­pig gewickel­ten Ver­bän­de ab und leg­ten sie gekonnt wie­der an.

Sanf­te Berüh­run­gen und ver­stoh­le­ne, zärt­li­che Blicke.

Den Loren­schie­bern wur­de gesagt, sie soll­ten sich jetzt wie­der ver­krü­meln. Ihr ein­zi­ger Trost war, dass die Lore jetzt viel leich­ter roll­te und sie wie­der die Her­ren der Schie­ne waren.

Als die­se Vor­stel­lung an einem ande­ren Tag wie­der­holt wer­den soll­te, woll­ten sich die Klei­nen nicht mehr für sol­che Antriebs­dien­ste ein­span­nen lassen.

Sie waren aller­dings auch auf die Kraft der Älte­ren ange­wie­sen. Eine ent­glei­ste oder gar absicht­lich in den Feld­gra­ben gestürz­te Lore wie­der auf die Schie­nen zu set­zen, dazu brauch­ten sie die Arme der älte­ren Gene­ra­ti­on. Also roll­te der Ver­wun­de­ten­trans­port noch ein­mal in glei­cher Wei­se an. Die mit Jodtink­tur getränk­ten Bin­den waren wie­der ange­legt. Die Anschie­ber stan­den bereit. Der Zau­ber der ersten Fahrt woll­te sich aber nicht gleich ein­stel­len. Dar­um stan­den die Kriegs­ver­letz­ten jetzt mit weit aben­teu­er­li­che­ren und gekün­stel­te­ren Posen und Gesten auf der Lore.

Die maro­den Glei­se lie­ßen sich wie­der bedroh­li­che Geräu­sche ent­locken. Mit ver­we­ge­nen Mie­nen stan­den die Ver­sehr­ten auf der klei­nen Loren­platt­form und starr­ten erwar­tungs­voll der Bie­gung ent­ge­gen. Einer hat­te sich sei­nen Arm sogar mit einem Draht­ge­rüst und Metall­schie­nen fach­män­nisch hochgestellt.

Bei vol­ler Fahrt sprang die Lore aus dem rui­nier­ten Gleis. Die ver­dutz­te Grup­pe der Loren­schie­ber kugel­te links und rechts der Schie­ne auf dem Boden. Alle Kriegs­ver­sehr­ten aber flo­gen aus dem Stand durch die Luft nach vorn und lan­de­ten teils auf der Schie­ne, teils im Raps­feld. Hans hat­te mit sei­nen paar Prel­lun­gen noch Glück. Alfred kam mit den Schul­ter­blät­tern auf und jap­ste elen­dig nach Luft. Da Mill noch nie auf sei­ne Schul­ter­blät­ter gefal­len war, fand er das ras­seln­de Rin­gen nach Luft sogar noch komisch und lach­te dar­über. Bald aber flo­gen ihm gro­ße Brocken von Acker­er­de um die Ohren und er rann­te, so schnell ihn sei­ne dür­ren Bei­ne tra­gen konnten.