Deutsch-maghre­bi­ni­sche For­scher­grup­pe erschließt kul­tu­rel­les Erbe in der Nordsahara

Der Agadir Imhaïlen: Links und rechts befinden sich auf drei Stockwerken die Eingänge zu den Speicherkammern. Foto: Prof. Dr. Herbert Popp, Universität Bayreuth

Der Aga­dir Imhaïlen

Es sind ein­drucks­vol­le Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit in Nord­afri­ka: die Getrei­de­spei­cher­bur­gen am Nord­rand der Saha­ra, die ver­schie­de­ne Ber­ber­stäm­me seit dem Mit­tel­al­ter bis ins 19. Jahr­hun­dert dort errich­tet haben. Ein inter­na­tio­na­les Team unter der Lei­tung von Prof. Dr. Her­bert Popp, Uni­ver­si­tät Bay­reuth, erforscht die Ent­ste­hung, Geschich­te und Funk­ti­on die­ser welt­weit ein­zig­ar­ti­gen Bau­wer­ke. In einem neu­en illu­strier­ten Atlas doku­men­tie­ren die Wis­sen­schaft­ler den aktu­el­len For­schungs­stand zu den „Agad­iren“, den Getrei­de­spei­cher­bur­gen in Süd­ma­rok­ko. Sie wol­len damit auch einen Bei­trag zu aktu­el­len Über­le­gun­gen lei­sten, wie die­ses kul­tu­rel­le Erbe geret­tet und lang­fri­stig genutzt wer­den kann.

In den nörd­li­chen Regio­nen der Saha­ra gehen ver­schie­de­ne Kli­ma­zo­nen inein­an­der über. Nach Nor­den hin ist Acker­bau ohne künst­li­che Bewäs­se­rung, der sog. Regen­feld­bau, gera­de noch mög­lich; die Step­pen­ve­ge­ta­ti­on im Süden lässt jedoch nur Wei­de­wirt­schaft zu. In die­sem Grenz­be­reich zwi­schen Regen­feld­bau und Wei­de­wirt­schaft sind die histo­ri­schen Getrei­de­spei­cher­bur­gen ange­sie­delt. Sie ver­tei­len sich auf einen Land­strei­fen, der sich vom Süd­we­sten Marok­kos über Süd­tu­ne­si­en bis nach Liby­en erstreckt. Seit 2009 ste­hen sie im Mit­tel­punkt eines umfang­rei­chen, von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) geför­der­ten Pro­jekts. Dar­in arbei­tet Prof. Dr. Her­bert Popp, der an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth den Lehr­stuhl für Stadt­geo­gra­phie inne­hat, mit nord­afri­ka­ni­schen Exper­ten eng zusam­men; ins­be­son­de­re mit Prof. Dr. Moha­med Aït Ham­za und Prof. Dr. Bra­him El Fass­kaoui in Marok­ko und mit Prof. Dr. Abdel­fett­ah Kas­sah in Tunesien.

Schutz vor Nah­rungs­knapp­heit und feind­li­chen Über­grif­fen: Die Getrei­de­spei­cher­bur­gen im Maghreb

Die For­schungs­grup­pe konn­te zei­gen, dass die Getrei­de­spei­cher­bur­gen für die acker­bau­en­den Ber­ber­stäm­me eine dop­pel­te Funk­ti­on erfüll­ten. Zum einen lie­ßen sich dort grö­ße­re Getrei­de­men­gen über eine län­ge­re Zeit hin­weg lagern. Da die Nie­der­schlags­men­gen in der Nord­sa­ha­ra von Jahr zu Jahr sehr unter­schied­lich aus­fal­len, konn­ten gerin­ge Ern­te­er­trä­ge in regen­ar­men Jah­ren durch gespei­cher­te Vor­rä­te aus­ge­gli­chen wer­den. Zum ande­ren dien­ten die Getrei­de­spei­cher­bur­gen auch als Festun­gen. Sie ermög­lich­ten Zuflucht und Sicher­heit in Kon­flik­ten mit riva­li­sie­ren­den Stäm­men. Heu­te sind die Spei­cher­bur­gen in Süd­tu­ne­si­en funk­ti­ons­los; in Süd­ma­rok­ko wird hin­ge­gen noch etwa ein Drit­tel der Spei­cher­bur­gen als Speich­er­de­pots genutzt.

‚Le patri­moi­ne‘ in Nord­afri­ka: Wach­sen­des Inter­es­se an der eige­nen Kulturgeschichte

Seit eini­ger Zeit ist in der nord­afri­ka­ni­schen Ber­ber­be­völ­ke­rung ein ver­stärk­tes histo­ri­sches Bewusst­sein zu beob­ach­ten. Es wächst das öffent­li­che Inter­es­se, die Getrei­de­spei­cher­bur­gen als Zeu­gen der eige­nen Ver­gan­gen­heit zu erhal­ten. „In den Maghreb-Staa­ten gewinnt das Schlag­wort vom ‚patri­moi­ne‘, dem kul­tu­rel­len Erbe, sicht­lich an Bedeu­tung“, berich­tet Pro­fes­sor Popp. „Mitt­ler­wei­le stel­len die Regie­run­gen auch finan­zi­el­le Mit­tel für die Restau­rie­rung und die bau­li­che Siche­rung der Spei­cher­bur­gen zur Ver­fü­gung. Zudem haben sich Initia­ti­ven gebil­det, die dar­auf abzie­len, dass sie in das Welt­kul­tur­er­be der UNESCO auf­ge­nom­men wer­den – und dies völ­lig zu Recht. Denn wir haben es mit foto­ge­nen Zeu­gen einer kul­tur­hi­sto­ri­schen Mei­ster­lei­stung zu tun, durch die sich eine länd­li­che, in Stäm­men orga­ni­sier­te Gesell­schaft wirk­sam gegen exi­sten­zi­el­le Risi­ken geschützt hat.“

Doku­men­ta­ti­on des kul­tu­rel­len Erbes: Ergeb­nis­se einer deutsch-maghre­bi­ni­schen Forschungskooperation

Die­se Bestre­bun­gen will das deutsch-maghre­bi­ni­sche For­schungs­team mit ihrem illu­strier­ten Atlas unter­stüt­zen, der jetzt unter dem Titel „Les aga­dirs de l’Anti-Atlas occi­den­tal“ erschie­nen ist. Er ergänzt den im vori­gen Jahr ver­öf­fent­lich­ten Band „Les ksour du Sud tuni­sien“. Die zwei Bän­de füh­ren die bis­he­ri­gen For­schungs­er­geb­nis­se zu den Spei­cher­bur­gen zusam­men, die in Marok­ko als „Agad­ire“ und in Tune­si­en als „Ksour“ bezeich­net wer­den. Sie geben Auf­schluss über deren Geschich­te, Funk­tio­nen und Orga­ni­sa­ti­ons­for­men. Zudem liegt jetzt erst­mals eine voll­stän­di­ge und seriö­se Inven­tur die­ses kul­tu­rel­len Erbes vor: Jeder noch funk­ti­ons­tüch­ti­ge oder in gutem bau­li­chen Zustand ver­blie­be­ne Spei­cher wird dar­in syste­ma­tisch beschrie­ben. Erst­mals hier ver­öf­fent­lich­te Schräg­luft­bil­der füh­ren eine ein­drucks­vol­le Kul­tur­land­schaft vor Augen.

Bei­trä­ge zu einem wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten Kulturtourismus

Im wei­te­ren Ver­lauf des Pro­jek­tes will die deutsch-maghre­bi­ni­sche For­scher­grup­pe ihre bis­her erar­bei­te­ten Ergeb­nis­se ins­be­son­de­re für tou­ri­sti­sche Pro­jek­te nutz­bar machen. In Marok­ko ist das Gebirgs­mas­siv des Anti­at­las, trotz sei­ner Nähe zum Tou­ri­sten­zen­trum Aga­dir, für kul­tur­tou­ri­sti­sche Akti­vi­tä­ten weit­ge­hend uner­schlos­sen. Daher wol­len die Wis­sen­schaft­ler für die­ses Gebiet eine the­ma­ti­sche Kar­te im Maß­stab 1:150.000 erstel­len und in drei Spra­chen (Fran­zö­sisch, Eng­lisch und Deutsch) ver­öf­fent­li­chen. „So kön­nen die Ergeb­nis­se unse­rer For­schungs­ar­bei­ten mit­hel­fen, die fas­zi­nie­ren­de Land­schaft des Anti­at­las für einen seriö­sen Kul­tur- und Bil­dungs­rei­se­tou­ris­mus zu öff­nen“, erläu­tert Pro­fes­sor Popp. „Dies wol­len wir im stän­di­gen Gedan­ken­aus­tausch mit den marok­ka­ni­schen Behör­den tun. Gemein­sam wol­len wir in den näch­sten Jah­ren dar­auf hin­ar­bei­ten, dass die UNESCO den Anti­at­las als ‚Kul­tur­land­schaft‘ im Sin­ne ihres Welt­erbe-Pro­gramms einstuft.“

Ver­öf­fent­li­chung:

Her­bert Popp, Moha­med Aït Ham­za, Bra­him El Fasskaoui:
Les aga­dirs de l’Anti-Atlas occidental.
Atlas illu­stré d’un patri­moi­ne cul­tu­rel du Sud marocain.
500 S., mit 77 Abbil­dun­gen und 12 illu­strie­ren­den Großphotos.
Bay­reuth 2011.
Der Band wur­de im Selbst­ver­lag der Natur­wis­sen­schaft­li­chen Gesell­schaft Bay­reuth e.V. veröffentlicht.