Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Kunst­vol­le Swa­hi­li-Dich­tung und isla­mi­sche Heilsgeschichte

Dr. Clarissa Vierke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Afrikanistik I der Universität Bayreuth.

Dr. Cla­ris­sa Vier­ke, wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl Afri­ka­ni­stik I der Uni­ver­si­tät Bayreuth.

Eine an der Bay­reuth Inter­na­tio­nal Gra­dua­te School of Afri­can Stu­dies (BIGS­AS) ent­stan­de­ne Dis­ser­ta­ti­on bie­tet erst­ma­lig eine text­kri­ti­sche Edi­ti­on und eine sti­li­sti­sche Ana­ly­se des „Uten­di wa Hau­da­ji“. Der Küsten­strei­fen, der sich von Soma­lia bis nach Mosam­bik erstreckt, ist eine afri­ka­ni­sche Regi­on mit einer beson­ders aus­ge­präg­ten wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Viel­falt. Han­dels­we­ge zur Ara­bi­schen Halb­in­sel und nach Süd­asi­en för­dern seit Jahr­hun­der­ten die Begeg­nung von Spra­chen und Kul­tu­ren. Die Stadt Lamu, auf der gleich­na­mi­gen Insel vor der kenia­ni­schen Küste gele­gen, hat sich so zu einem kos­mo­po­li­ti­schen Zen­trum ent­wickelt und zählt heu­te zum UNESCO-Welterbe.

In die­sem Umfeld ist im 19. Jahr­hun­dert das Vers­epos „Uten­di wa Hau­da­ji“ ent­stan­den. Dr. Cla­ris­sa Vier­ke, Absol­ven­tin der Bay­reuth Inter­na­tio­nal Gra­dua­te School of Afri­can Stu­dies (BIGS­AS), bie­tet in ihrer Unter­su­chung „On the Poe­tics of the Uten­di“ eine text­kri­ti­sche Edi­ti­on, die sich auf Trans­skrip­tio­nen aller über­lie­fer­ten Manu­skrip­te stützt. Zudem ana­ly­siert sie die Text­dra­ma­tur­gie, die Metrik, die Stil­mit­tel und die unge­wöhn­li­che poe­ti­sche Spra­che die­ser Dich­tung in ihrem lite­ra­tur­ge­schicht­li­chen Kontext.

Eine Hel­den­epi­so­de aus der Früh­zeit des Islam

Der Begriff „Uten­di“ bezeich­net eine poe­ti­sche Gat­tung, die bis heu­te im ost­afri­ka­ni­schen Raum popu­lär ist. Schau­platz des „Uten­di wa Hau­da­ji“, der „Dich­tung von der Kamel­sänf­te“, ist die Ara­bi­sche Halb­in­sel. Im Mit­tel­punkt steht die Hel­den­fi­gur Ali, der Schwie­ger­sohn des Pro­phe­ten Muham­med. Trotz zahl­rei­cher Wider­stän­de gelingt es ihm, die Ehe­frau und die Toch­ter Muham­meds in des­sen Auf­trag von Mek­ka nach Medi­na zu brin­gen. In einer Schlacht, die den Höhe­punkt der Dich­tung dar­stellt, tötet Ali eine gewal­ti­ge Über­macht von Geg­nern, die sei­ne Kara­wa­ne auf­hal­ten wol­len und sich über­dies dem Islam wider­set­zen. In Medi­na wer­den Ali und die bei­den Frau­en von Muham­med begei­stert empfangen.

Arti­fi­zi­el­le Sprach­mi­schung als poe­ti­sches Ideal

Das Vers­epos ist in Swa­hi­li ver­fasst, der jahr­hun­der­te­al­ten ost­afri­ka­ni­schen Han­dels- und Kul­tur­spra­che, und ist in ara­bi­scher Schrift nie­der­ge­schrie­ben wor­den. Beson­ders inter­es­sant ist der in die­ser Dich­tung ver­wen­de­te Wort­schatz. Eini­ge Begrif­fe stam­men aus ver­schie­de­nen Swa­hi­li-Dia­lek­ten, ins­be­son­de­re dem für die Insel Lamu cha­rak­te­ri­sti­schen Kia­mu-Dia­lekt; ande­re Begrif­fe sind dem Ara­bi­schen ent­nom­men. Auch älte­re Wort­bil­dun­gen, die am Ende des 19. Jahr­hun­derts bereits archa­isch wirk­ten, sind in der „Dich­tung von der Kamel­sänf­te“ bewusst ein­ge­setzt worden.

Zwei hoch­an­ge­se­he­ne ost­afri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler haben die Bay­reu­ther Afri­ka­ni­stin Dr. Cla­ris­sa Vier­ke bei ihren sprach­ge­schicht­li­chen For­schungs­ar­bei­ten unter­stützt: Ahmed Sheikh Naba­ha­ny, der auf Lamu gebo­ren wur­de, und Ahmad Nas­sir Juma Bha­lo aus der kenia­ni­schen Küsten­stadt Mom­ba­sa. „Bei­de haben ein enor­mes Wis­sen über die Ent­wick­lung der swa­hi­li­schen Spra­che und Dich­tung“, berich­tet Vier­ke. „Sie haben mir die Augen geöff­net für die absichts­vol­le Kom­po­si­ti­on eines Wort­schat­zes, der unter­schied­li­chen Regio­nen und Tra­di­tio­nen ent­nom­men ist. Das aus der euro­päi­schen Tra­di­ti­on bekann­te Ide­al des ‚poe­ta doc­tus‘ – also des gelehr­ten Dich­ters, der sou­ve­rän an sprach­li­che Tra­di­tio­nen anknüpft und zugleich über Kennt­nis­se aus ver­schie­den­sten Wis­sens­be­rei­chen ver­fügt – ist auch in der ost­afri­ka­ni­schen Lite­ra­tur prä­sent. Nicht irgend­ei­ne ‚Natur­wüch­sig­keit‘, son­dern eine bewuss­te kunst­vol­le Kom­po­si­ti­on ist auch heu­te ein aner­kann­tes lite­ra­ri­sches Ideal.“

Sozio­po­li­ti­sche Dimen­sio­nen: Hel­den­dich­tung als Heilsgeschichte

Wie Vier­ke in ihrer Unter­su­chung her­aus­ar­bei­tet, ist das Vers­epos dar­auf ange­legt, die dar­ge­stell­ten Ereig­nis­se so zu über­for­men, dass ein über­zeit­lich gül­ti­ger Sinn erkenn­bar wird. Leser und Hörer sol­len die Über­zeu­gung gewin­nen, dass sich die­ser Sinn erst im Kon­text der isla­mi­schen Heils­ge­schich­te erschließt. Die gegen alle Wider­stän­de der ‚Ungläu­bi­gen‘ durch­ge­setz­te Rück­füh­rung von Ehe­frau und Toch­ter zum Pro­phe­ten Muham­med soll als bei­spiel­haf­te escha­to­lo­gi­sche Tat erschei­nen, als ein dau­er­haf­tes Vor­bild für geschichts­wirk­sa­mes Han­deln, das von Loya­li­tät gegen­über dem Pro­phe­ten geprägt ist.

Das im 19. Jahr­hun­dert ent­stan­de­ne Vers­epos konn­te so als Para­bel für dama­li­ge sozio­po­li­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen auf­ge­fasst wer­den, vor allem als Anreiz für den Kampf gegen euro­päi­sche Kolo­ni­al­mäch­te und für die poli­ti­sche Unab­hän­gig­keit. Und bis heu­te erweist sich die­se Dimen­si­on der „Dich­tung von der Kamel­sänf­te“ als aktu­ell. „Eini­ge jun­ge Män­ner in Mom­ba­sa aus dem Umkreis von Ahmed Sheikh Naba­ha­ny haben mir erklärt, dass das Vers­epos auch auf poli­ti­sche Ereig­nis­se der Gegen­wart bezo­gen wer­den kön­ne – etwa auf die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Israe­lis und Palä­sti­nen­sern oder den Ein­satz U.S.-amerikanischer Trup­pen in Afgha­ni­stan“, berich­tet Vierke.

Ver­öf­fent­li­chung:

Cla­ris­sa Vierke,
On the Poe­tics of the Utendi.
A Cri­ti­cal Edi­ti­on of the Nine­te­enth-Cen­tu­ry Swa­hi­li Poem „Uten­di wa Haudaji“
tog­e­ther with a Sty­li­stic Analysis,
LIT-Ver­lag, Bei­trä­ge zur Afri­ka­for­schung Bd. 50, Ber­lin 2011