Fort­set­zungs­ro­man: “Mamas rosa Schlüp­fer” von Joa­chim Kort­ner, Teil 35

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Zum Lettau

Eine Woche vor Weih­nach­ten kam der Poli­zist Schrei­ber ins Pfarr­haus. Zwar in Uni­form, aber ohne sei­ne Pisto­le. Er hielt eine Liste in der Hand. Mit lau­ter Stim­me rief er die Namen der Flücht­lin­ge und die Namen der Höfe auf, in die sie ab jetzt zwangs­ein­quar­tiert wor­den waren. Bei Mills Fami­lie fiel der Name Lettau und die Haus­num­mer der Dorf­stra­ße. Mit dem Hand­wa­gen waren die bei­den Kof­fer und die zwei Ruck­säcke schnell zu die­sem Bau­ern­hof gezogen.

Als auf das Klop­fen an der Vor­der­tür nie­mand erschien, kam Roland auf die Idee, den klei­nen Ein­stieg zu öff­nen, der in die gro­ße, tür­kis­far­ben gestri­che­ne Hof­tür ein­ge­fügt war. Er stieg ein und schloss die Luke hin­ter sich.

Nach einer Minu­te schon öff­ne­te sie sich wie­der und Roland wink­te alle her­ein. Ein gro­ßer Flü­gel des Hof­tors ging wie von Gei­ster­hand auf.

„Los, rein mit dem Wagen!“

Roland rief es, als ob er auf dem Bau­ern­hof schon zu Hau­se wäre. Der Tor­flü­gel schloss sich wie­der. Dahin­ter kam die Bau­ern­toch­ter her­vor. Sie muss­te so um die zwan­zig sein. Ihr blon­des Haar lug­te an den Rän­dern des gepunk­te­ten Kopf­tuchs ein wenig her­vor. Ein lan­ges, geflick­tes Schür­zen­kleid mit gro­ßen Taschen ver­hüll­te die stram­me Figur. Ihre Füße steck­ten, von dicken Woll­socken gewärmt, in der­ben Pan­tof­feln mit Holzsohle.

„Ick bin die Hei­di. Denn man rin in de jute Stu­be. Vat­ta is bei die Schweine.“

Dann zeig­te sie den Ein­quar­tier­ten ihre neue Unter­kunft. Ein Stüb­chen von zwölf Qua­drat­me­tern und eine fen­ster­lo­se Schlaf­kam­mer, die ein Guck­loch zur Küche hat­te. Die bei­den älte­ren Brü­der nah­men für sich gleich die dunk­le Kam­mer in Beschlag und ihre Mut­ter berei­te­te ihr eige­nes Lager am Fuß­bo­den auf einer Matrat­ze. Mill und Jank teil­ten sich ein höl­zer­nes Bett­ge­stell und ver­ein­bar­ten, Fuß an Kopf zu schlafen.

Im Pastor­haus die Mas­sen­un­ter­kunft – und hier end­lich eige­ne vier Wän­de. Der win­zi­ge guss­ei­ser­ne Stu­ben­ofen ließ schon bald Kie­fern­schei­te pras­seln und ver­trieb die Dezem­ber­käl­te aus dem muf­fi­gen Stübchen.

Die­ser täg­li­che Kampf um das Essen für ihre Jun­gen und sich und die stän­di­ge Wach­sam­keit vor einer mög­li­chen Ver­ge­wal­ti­gung hat­ten in Hed­wig Gedan­ken an ihren Mann Rudolf fast voll­kom­men erstickt. Erst jetzt, in die­ser Vor­ah­nung von Gebor­gen­heit, tauch­ten sein Gesicht und der Klang sei­ner Stim­me wie­der in ihr auf.

Ich bin nicht bloß die Mut­ter von vier Jungs. Ich bin eine ver­hei­ra­te­te Frau.

Als sie nachts die regel­mä­ßi­gen Atem­zü­ge ihrer Kin­der hör­te, ging ihr die­ser Gedan­ke wie­der durch den Kopf. Sie fand kei­nen Schlaf und starr­te von ihrer Fuß­bo­den­ma­trat­ze aus hoch zur Zim­mer­decke. Gott sei Dank hat­te sie das Album mit den gan­zen Fami­li­en­fo­tos bei der Flucht mit­ge­nom­men. Gera­de jetzt hät­te sie Lust, die Sei­ten mit dem halb­trans­pa­ren­ten Schutz­pa­pier wie­der durch­zu­blät­tern. Aber in der Lam­pen­fas­sung an der Decke fehl­te die Bir­ne und außer­dem schlie­fen ja jetzt die Jungen.

Das Hoch­zeits­fo­to erschien vor ihrem gei­sti­gen Auge.

Sie sah sich in dem wun­der­ba­ren Braut­kleid aus Spit­ze, den Myr­then­kranz auf dem Schlei­er, ihren Rudolf im dunk­len Anzug und Weste, natür­lich mit sei­ner unver­meid­li­chen gol­de­nen Uhr­ket­te – dazu sein gewin­nen­des, lei­ses Lächeln.

Als Toch­ter des Poli­zei­prä­si­den­ten von Oppeln war sie schon seit der Kind­heit beson­ders stolz auf ihren Vater gewe­sen, wenn er sich mal bei irgend­wel­chen fei­er­li­chen Anläs­sen in sei­ner Gala­uni­form mit den pracht­vol­len Sticke­rei­en und schwe­ren Schul­ter­stücken aus Gold­bro­kat in der Öffent­lich­keit zeigte.

Sie aber hat­te die­sen klei­nen Spar­kas­sen­an­ge­stell­ten gehei­ra­tet. Das war abso­lut „unter Stan­de“. Einen Inge­nieur, zumin­dest einen Leh­rer hat­ten sich die Eltern für ihre Hed­wig vor­ge­stellt. Arzt, so was wäre natür­lich noch erstre­bens­wer­ter gewe­sen. Beson­ders ihre älte­re Schwe­ster Mar­ga­re­te hat­te ihr das immer wie­der vorgehalten.

„Wirst schon sehen. Euch, mit euren vier Kin­dern, wern wir am Ende noch durch­füt­tern müssn. Das seh ich noch komm.“

Die hat­te eine gute Par­tie gemacht und den rei­chen, aber fast zwan­zig Jah­re älte­ren, dick­li­chen Geschäfts­mann Mol­ka gehei­ra­tet. Tex­ti­li­en für Damen und Her­ren, am Ring 2, erstes Geschäft am Plat­ze. Die war doch bloß nei­disch, weil ihr Mol­ka schon so alt war und Glat­ze hatte.

„Na ja, die Lie­be, die kommt dann schon noch. Wirst du sehen“, hat­te ihre Mut­ter ihr ver­si­chert und dabei immer und immer wie­der betont:

„Haupt­sa­che, das Geld stimmt! Von Luft und Lie­be allein kann man nich lebm!“

Die rei­chen Mol­kas hat­ten auch nur ein ein­zi­ges Kind geplant. Man mun­kel­te in der Ver­wandt­schaft sogar, dass da Prä­ser­va­ti­ve ver­wen­det wür­den. Schon so lan­ge ver­hei­ra­tet und erst einen Sohn – das gehe doch nicht mit rech­ten Din­gen zu. Ihr ein­zi­ger Sohn Gün­ther, ein zart gebau­ter Gym­na­si­ast mit Nickel­bril­le, hat­te dann gleich beim Ein­marsch in Russ­land einen Kopf­schuss bekom­men. Die Mei­nung der beson­ders from­men Ver­wand­ten war, dass es um den Gün­ther zwar scha­de wäre, für die Mol­kas aber sei es die gerech­te Stra­fe Got­tes für die Prä­ser­va­ti­ve. Nun hät­ten die Mol­kas kei­nen mehr, der ein­mal ihr Tex­til­ge­schäft über­neh­men wür­de und jetzt könn­ten sie eben der Kat­ze in den Arsch gucken. Aber Hed­wig hat­te so ein gehäs­si­ges Ver­wandt­schafts­gift nie verspritzt.

Viel­leicht wür­de ihr Rudolf noch ein­mal zum Fili­al­lei­ter auf­stei­gen kön­nen. Außer­dem – wo die Lie­be eben hin­fällt. Und bes­ser als der alte Mol­ka sah ihr Rudolf auf jeden Fall aus. Mit dem Gedan­ken, dass er viel­leicht schon irgend­wo ver­scharrt, ampu­tiert oder kriegs­blind sein könn­te, woll­te sie sich nicht abgeben.

***

Am näch­sten Mor­gen tra­fen sie ihren neu­en Haus­herrn. Es war eine eigen­ar­ti­ge Begeg­nung. Sie hör­ten zuerst nur sei­ne Stim­me. Er war im Kuh­stall und fluch­te dröh­nend mit den Tieren.

„Det machta imma. So issa ehmt. Da brauchn se sich nischt zu denkn.“

Die Bau­ern­toch­ter ver­such­te, ihre etwas ver­dutzt bis ängst­lich drein­blicken­den Zwangs­gä­ste zu beru­hi­gen. Jetzt kam er aus dem Stall, lehn­te sei­ne Mist­ga­bel an die Mau­er, brab­bel­te dann noch etwas Unfreund­li­ches in die offe­ne Stall­tür und wand­te sich zum Wohn­trakt sei­nes Hofes.

Ein mit­tel­gro­ßer, schlan­ker Mann. So Ende fünf­zig. Sein Stop­pel­bart war dicht und wuchs ihm am schlan­ken Hals in silb­ri­gen Wir­beln. Er trug die dun­kel­blaue Arbeits­klei­dung, die bei Bau­ern üblich war, dazu der­be, hohe Schnürschuhe.

Hed­wig streck­te ihm ihre Hand zum Gruß hin. Sie sah selbst, wie aus­ge­laugt und wel­lig ihre Haut von der rus­si­schen Kern­sei­fe gewor­den war. Er gab ihr sei­ne von Mist-und Heu­ga­bel gestähl­te und von tie­fen Horn­haut­schwie­len gefurch­te Bau­ern­hand mit selt­sa­mer Kraft­lo­sig­keit zum Drücken.

Von sei­ner Toch­ter erfuhr Hed­wig, dass der Lettau sei­ne Frau schon jung hat­te begra­ben müs­sen und dass der eine Sohn in Russ­land „für Füh­rer, Volk und Vater­land auf dem Fel­de der Ehre blieb“, wäh­rend der zwei­te in jugo­sla­wi­sche Gefan­gen­schaft gera­ten war und seit­dem als ver­misst galt.

Den Ein­marsch der rus­si­schen Armee hat­te Adel­heid nur des­halb ohne Ver­ge­wal­ti­gung über­ste­hen kön­nen, weil der Lettau sei­ne ein­zi­ge Toch­ter einen Monat lang auf dem Heu­bo­den ver­steckt und gefüt­tert hatte.

***

Rolands Arbeits­ein­satz als Demon­tie­rer von zwei­glei­si­gen Strecken war jetzt aus­ge­lau­fen. Als fort­ge­schrit­te­ner Gym­na­si­ast war er an land­wirt­schaft­li­cher Hilfs­ar­beit nicht inter­es­siert. Stall­ar­beit betrach­te­te er wegen des Mist­ge­s­tanks als unter sei­ner Wür­de und die Arbeit auf dem Feld schätz­te er als pri­mi­tiv ein.

Hans, der erst kurz vor der Flucht auch ins Gym­na­si­um über­ge­tre­ten war, arbei­te­te sich dage­gen mit Hilfs­be­reit­schaft, schnel­ler Auf­fas­sungs­ga­be und prak­ti­schem Geschick in das sprö­de Bau­ern­herz vom Lettau.