Wer hat wie viel Macht im EU-Mini­ster­rat? Ana­ly­se­ver­fah­ren im wis­sen­schaft­li­chen Vergleich

Der EU-Ver­trag von Lis­sa­bon hat die Regeln für Abstim­mun­gen im EU-Mini­ster­rat neu fest­ge­legt. Gewin­nen ein­zel­ne EU-Mit­glieds­län­der dadurch mehr Abstim­mungs­macht? Wie ist die Posi­ti­on des EU-Mini­ster­rats ins­ge­samt ein­zu­schät­zen? Zur Beant­wor­tung die­ser Fra­gen hat Prof. Ste­fan Napel, Uni­ver­si­tät Bay­reuth, spiel­theo­re­ti­sche und auf „Macht-Indi­zes“ gestütz­te Ana­ly­se­ver­fah­ren ver­gli­chen. Bei­de Ansät­ze füh­ren zu dem Ergeb­nis, dass die Abstim­mungs­macht von Deutsch­land, Frank­reich, Ita­li­en und dem Ver­ei­nig­ten König­reich gestärkt wor­den ist. Mit spiel­theo­re­ti­schen Ana­ly­sen lässt sich zudem zei­gen, dass die EU-Kom­mis­si­on und das EU-Par­la­ment im Zusam­men­spiel der EU-Orga­ne an Ein­fluss gewon­nen haben.

„Qua­drat­wur­zel oder Tod“: Die­ser Slo­gan wur­de 2007 zum Inbe­griff eines hef­ti­gen Streits, in den sich die Mit­glieds­län­der der Euro­päi­schen Uni­on ver­wickelt hat­ten. Es ging um den neu­en Reform­ver­trag von Lis­sa­bon und die Fra­ge, wel­che Regeln bei Abstim­mun­gen im Rat der Euro­päi­schen Uni­on – kurz: EU-Mini­ster­rat – gel­ten soll­ten. Da es sich um das wich­tig­ste Ent­schei­dungs­gre­mi­um der EU han­delt, war ins­be­son­de­re umstrit­ten, wie die Stim­men der Mit­glieds­län­der im Ver­hält­nis zu ihrer Bevöl­ke­rungs­zahl gewich­tet wer­den sol­len. In lan­gen Ver­hand­lun­gen gelang schließ­lich ein Kom­pro­miss. Mitt­ler­wei­le ist der Lis­sa­boner Ver­trag in allen EU-Mit­glieds­län­dern rati­fi­ziert, die poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen über die Stim­men­ge­wich­tung sind verebbt.

Aber wie ist der erziel­te Kom­pro­miss zu bewer­ten – nicht zuletzt im Ver­gleich mit den bis­he­ri­gen Abstim­mungs­re­geln, die vor zehn Jah­ren im EU-Ver­trag von Niz­za fest­ge­legt wur­den? Wel­che Län­der haben bei Abstim­mun­gen im EU-Mini­ster­rat künf­tig eine star­ke Posi­ti­on, wer ver­liert an Ein­fluss? Für die Beant­wor­tung sol­cher Fra­gen gibt es mitt­ler­wei­le aner­kann­te wis­sen­schaft­li­che Ver­fah­ren. Deren Eva­lua­ti­on und Wei­ter­ent­wick­lung ist ein For­schungs­ge­biet von Prof. Ste­fan Napel, der an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth den Lehr­stuhl für Mikro­öko­no­mie inne­hat. Mit sei­nem 2009 ver­stor­be­nen Kol­le­gen Prof. Mika Wid­grén an der fin­ni­schen Uni­ver­si­tät Tur­ku hat er dabei lan­ge zusam­men­ge­ar­bei­tet. Neue For­schungs­er­geb­nis­se, die sich spe­zi­ell mit dem EU-Mini­ster­rat befas­sen, sind jetzt in der Zeit­schrift „Social Choice and Wel­fa­re“ online veröffentlicht.

Mathe­ma­ti­sche Berech­nun­gen und spiel­theo­re­ti­sche Analysen

Wenn es dar­um geht, die Macht­po­si­tio­nen der EU-Mit­glieds­län­der im Mini­ster­rat ein­zu­schät­zen, ist der fol­gen­de Aspekt grund­le­gend: Die Anzahl der Stim­men, über die ein ein­zel­nes Land auf­grund sei­ner Bevöl­ke­rungs­zahl ver­fügt, gibt nicht zu erken­nen, wie stark sein Ein­fluss auf die Abstim­mungs­er­geb­nis­se ist. Denn die Abstim­mungs­macht („voting power“) eines Lan­des hängt wesent­lich auch davon ab, inwie­weit mehr­heits­fä­hi­ge Koali­tio­nen im Mini­ster­rat auf des­sen Stim­men ange­wie­sen sind.

Mit dem Ziel, tat­säch­li­che Abstim­mungs­macht mög­lichst prä­zi­se ein­schät­zen zu kön­nen, sind in den letz­ten Jahr­zehn­ten abstrak­te mathe­ma­ti­sche Ver­fah­ren ent­wickelt wor­den. Sie ord­nen den EU-Mit­glieds­län­dern Kenn­zah­len zu, die in der Fach­welt als „Macht-Indi­zes“ oder – anknüp­fend an den bri­ti­schen Mathe­ma­ti­ker Lio­nel S. Pen­ro­se und den US-ame­ri­ka­ni­schen Juri­sten John F. Banz­haf III – auch als „Pen­ro­se-Banz­haf-Indi­zes“ bezeich­net wer­den. Die­sen Ver­fah­ren liegt die fik­ti­ve Annah­me zugrun­de, jedes Land wür­de bei Abstim­mun­gen im Mini­ster­rat ent­we­der mit „ja“ oder mit „nein“ votie­ren, ohne zuvor das wahr­schein­li­che Abstim­mungs­ver­hal­ten ande­rer Mit­glieds­län­der in Betracht zu zie­hen. Die Rea­li­tät jedoch sieht anders aus: Bei wich­ti­gen Abstim­mun­gen sind vor­he­ri­ge Abspra­chen, Koali­ti­ons­bil­dun­gen und stra­te­gi­sche Rück­sich­ten auf ande­re Mit­glieds­län­der eben­so an der Tages­ord­nung wie kal­ku­lier­te Stimmenthaltungen.

In der For­schung hat sich daher eine grund­le­gend ande­re Her­an­ge­hens­wei­se eta­bliert, um Auf­schluss über die tat­säch­li­che Abstim­mungs­macht von Mit­glie­dern eines Gre­mi­ums zu gewin­nen. Sie beruht auf den Erkennt­nis­sen und Metho­den der Spiel­theo­rie („game theo­ry“). Die­ser ver­gleichs­wei­se jun­ge Wis­sen­schafts­zweig ist dar­auf spe­zia­li­siert, das von stra­te­gi­schen Über­le­gun­gen gelei­te­te Zusam­men­wir­ken indi­vi­du­el­ler Akteu­re mit hoher Prä­zi­si­on zu ana­ly­sie­ren. Auch auf die Bera­tungs­pro­zes­se im EU-Mini­ster­rat las­sen sich spiel­theo­re­ti­sche Model­len ohne beson­de­re Schwie­rig­kei­ten anwen­den. Dabei fin­den ins­be­son­de­re koope­ra­ti­ve und kon­fron­ta­ti­ve Ver­hal­tens­wei­sen Berück­sich­ti­gung, mit denen ein­zel­ne Mit­glieds­län­der ihre stra­te­gi­schen Inter­es­sen durch­set­zen können.

Wis­sen­schaft­li­che Metho­den­ver­glei­che – Wer sind die „Gewin­ner“ des Lissabon-Vertrags?

Napel und Wid­grén haben nun ein auf der Spiel­theo­rie basie­ren­des Ana­ly­se­ver­fah­ren und die auf „Macht-Indi­zes“ gestütz­ten Berech­nun­gen mit­ein­an­der ver­gli­chen. Füh­ren die bei­den wis­sen­schaft­li­chen Ansät­ze zu völ­lig unter­schied­li­chen Ein­schät­zun­gen, was die Abstim­mungs­macht der EU-Mit­glieds­län­der im Mini­ster­rat betrifft? Über­ra­schen­der­wei­se nicht: Die Resul­ta­te sind sich durch­aus ähn­lich. Bei­spiels­wei­se kom­men die Autoren mit bei­den Ver­fah­ren zu dem Ergeb­nis, dass der Ver­trag von Lis­sa­bon die Abstim­mungs­macht der vier größ­ten Mit­glieds­län­der – Deutsch­land, Frank­reich, Ver­ei­nig­tes König­reich und Ita­li­en – klar gestärkt hat.

Ein signi­fi­kan­ter Unter­schied wird aller­dings erkenn­bar, sobald ande­re Orga­ne der EU in die Ana­ly­sen ein­be­zo­gen wer­den. Dann erweist sich die spiel­theo­re­ti­sche Her­an­ge­hens­wei­se gegen­über klas­si­schen Berech­nungs­ver­fah­ren als über­le­gen. Die­se sind prin­zi­pi­ell nicht imstan­de, die Bezie­hun­gen des Eu-Mini­ster­rats zur Euro­päi­schen Kom­mis­si­on und zum Euro­päi­schen Par­la­ment so zu ana­ly­sie­ren, wie es gera­de unter macht­po­li­ti­schen Aspek­ten erfor­der­lich wäre. Napel und Wid­grén illu­strie­ren dies an einem Bei­spiel: Weit­hin ist die Ansicht ver­brei­tet, die im Ver­trag von Lis­sa­bon fest­ge­leg­ten Abstim­mungs­re­geln wür­den den Mini­ster­rat als gesetz­ge­be­ri­sches Organ der EU stär­ken. Doch die spiel­theo­re­ti­sche Ana­ly­se lie­fert einen ande­ren Befund: Tat­säch­lich sind es die EU-Kom­mis­si­on und das EU-Par­la­ment, die im Zusam­men­spiel der EU-Orga­ne an Ein­fluss gewon­nen haben.

Ver­öf­fent­li­chung:

Ste­fan Napel and Mika Widgrén,
Stra­te­gic ver­sus non-stra­te­gic voting power in the EU Coun­cil of Mini­sters: the con­sul­ta­ti­on procedure,
In: Social Choice and Wel­fa­re, Online first,
DOI-Book­mark: 10.1007/s00355-010‑0502‑5