Herbert Geberts Buchkritik: Alexander Demandt "Es hätte anders kommen können"

Herbert Gebert

Herbert Gebert

Thilo Sarrazins Horror-Traum von den kleinen dicken Kopftuch-Mädchen, die trotz begrenzter Intelligenz das einst christliche Abendland unterwandern, wurde zum Bestseller des abgelaufenen Jahres. Sein Erfolg deutet auf ein mit Angst, Aggression und Vorurteilen aufgeladenes Islam-Bild in Teilen der deutschen Gesellschaft hin. Bestätigt wird dieses allerdings durch Terroranschläge und Glaubenskriegs-Parolen in der arabischen Welt.

Doch was wäre geschehen, wenn die muslimische Angriffswelle, die 732 n. Chr. über die Pyrenäen ins südliche Frankenreich hineinrollte, nicht in der Ebene zwischen Tours und Poitiers durch die Panzerreiter Karl Martells gestoppt worden wäre! In seinem kontrafaktischen Geschichtsbuch „Es hätte auch anders kommen können“ geht der Berliner Althistoriker Alexander Demandt auf diese Alternative ein. Er entwirft eine vom Islam dominierte, aber von weitgehender Toleranz geprägte Religionsgesellschaft ohne Bekehrungs- und Beschneidungsoffensiven. Die damals überlegene arabische Zivilisation setzt sich gegen die magisch-primitiven Lebensformen im frühmittelalterlichen Frankenreich durch. Große Städte mit Moscheen, Schulen und Bädern entstehen. Arabische Medizin und Technik zeigen im Alltag ihre Überlegenheit. Die Raffinessen orientalischer Kochkunst und Sinnlichkeit dringen in die altfränkische Lebenswelt ein. Doch die Frage stellt sich, ob die weltgeschichtliche Bedeutung, die Demandt dem Sieg Karl Martells und seiner frühen Ritter zuordnet, nicht übertrieben ist. Nicht wenige Historiker bewerten die Entscheidungsschlacht aus arabischer Sicht nur als Vorpostengefecht. Allein die klimatischen Bedingungen jenseits der vertrauten Mittelmeerwelt hemmten den islamische Expansionsdrang.

Kontrafaktische Geschichtsschreibung, wie sie hier praktiziert wird, ist kein müßiges Spiel der Fantasie, sondern gehört zum Normalprogramm der historischen Wissenschaften. Es geht dabei nicht um Stoffsammlungen für exotische Filmdrehbücher und Unterhaltungsromane, sondern um die Abwägung von Alternativen, die sich an den Wendepunkten und Scheidewegen der Geschichte aufdrängen. Auf diesem weiten Feld überzeugt Demandt vor allem dort, wo er sich auf seinem Spezialgebiet, der antiken Gechichte, bewegt. Wenn die persische Flotte die Schiffe Athens 480 v. Chr. in der engen Bucht von Salamis vernichtet hätte, wäre die griechische Kultur keineswegs untergegangen, denn im persischen Großreich herrschte kulturelle Toleranz. Seine Oberschicht las frühgriechische Dichtung und Philosophie. Die Perserkriege sind – nicht zuletzt in der Epoche des Ost-West-Konflikts – zum Mythos eines totalen Kriegs um die politische, kulturelle und religiöse Freiheit verfälscht worden. Doch was wäre geschehen, wenn Karthagos Feldherr Hannibal nach dem Sieg von Cannae (216 v. Chr.), statt zu zögern und zu zaudern, das waffenlose Rom eingenommen hätte? Dieses hätte sich dann nicht zum Zentrum eines Weltreichs entwickelt, sondern wäre auf die Rolle einer mittelitalienischen Bauernrepublik herabgestuft worden. Der Kulturtransfer von den Küsten des Mittelmeers in die Gebiete nördich der Alpen hätte auf anderen Wegen verlaufen müssen. Die digitalen Textmaschinen der Gegenwart wären daher statt mit lateinischen Buchstaben mit germanischer Runenschrift programmiert, denn diese hat sich aus einem auf griechischem Fundament ruhenden nordetruskischem Alphabet entwickelt.

Bei seinen alternativen Exkursionen durch die Geschichte des 20. Jhdt erweist sich Alexander Demandt hingegen oft als ein Fußgänger der Luft. Die Thesen und Kontroversen der letzten fünfzig Jahre zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat er so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Und zwischen den Zeilen wärmt er die längst entzauberte Legende vom notwendigen Präventivkrieg NS-Deutschlands im Juni 1941 zur Abwehr eines bevorstehenden sowjetischen Überfalls auf. Schade, denn über weite Strecken, so z.B. in dem Kapitel zum deutschen Bauernkrieg, den Portraits von Luther, Wallenstein und Friedrich II liest sich das Buch als ein fulminanter Groß-Essay, der Geschichte lebendig macht.

Alexander Demandt
Es hätte anders kommen können: Wendepunkte deutscher Geschichte
Propyläen (29. September 2010)
203 Seiten
Preis: EUR 19,95