Her­bert Geberts Buch­kri­tik: Tom Segev, „Simon Wie­sen­thal – Die Biographie“

Sil­ve­ster 1949: im Tief­schnee gebor­gen liegt das Dorf Alt­aus­see am Fuß des Toten Gebir­ges im Salz­kam­mer­gut der Stei­er­mark. Hier lebt Vero­ni­ka Liebl-Eich­mann, die Ehe­frau Adolf Eich­manns, des inter­na­tio­nal gebuch­ten Top­ma­na­gers des Holo­caust. Zum Jah­res­wech­sel erwar­tet die Fami­lie sei­nen Besuch. Doch auch ame­ri­ka­ni­sche und öster­rei­chi­sche Poli­zi­sten lie­gen auf der Lau­er; eben­so der damals schon bekann­te Nazi­jä­ger Simon Wie­sen­thal, der vier­ein­halb Jah­re vor­her das KZ Maut­hau­sen als

44 kg schwe­res Hun­ger­ske­lett ver­las­sen hat. Bevor die Fal­le zuschnappt, wird Eich­mann am Orts­rand gewarnt. Simon Wie­sen­thal (1908 – 2005), dem es in der Fol­ge­zeit gelang, Hun­der­te von NS-Ver­bre­chern auf­zu­spü­ren und die Erin­ne­rung an den Völ­ker­mord, vor kol­lek­ti­vem Beschwei­gen und Ver­drän­gen zu bewah­ren, wird dem lei­ten­den Büro­kra­ten der Todes­ma­schi­ne­rie auf der Spur blei­ben. 1953 infor­miert er die Staats­be­hör­den Isra­els, dass sich Eich­mann in Argen­ti­ni­en auf­hält. Erst sie­ben Jah­re spä­ter ent­führt ihn dort der israe­li­sche Geheim­dienst Mos­sad nach Jeru­sa­lem; Pro­zess und Hin­rich­tung fol­gen 1961.

Der israe­li­sche Jour­na­list und Histo­ri­ker Tom Segev (geb. 1945) legt eine mas­si­ve und impres­si­ve Bio­gra­phie Wie­sen­thals vor, die – leben­dig in epi­scher Brei­te erzählt – kano­ni­sche Gel­tung bean­sprucht. Er deu­tet Wie­sen­thal als tra­gisch zer­ris­se­ne Per­sön­lich­keit: der Ver­fol­ger und Rächer war selbst von den Dämo­nen sei­ner Erin­ne­rung gehetzt. Der Ver­fas­ser über­höht ihn dabei zu einer Sym­bol­fi­gur des

20. Jhdt., zu einer reprä­sen­ta­ti­ven Per­son der Zeit­ge­schich­te, die vom Glau­ben an das poli­ti­sche Ethos der Frei­heit, wie ihn vor allem die US-Gesell­schaft ver­kör­pert, geprägt war. Daher gerät Segevs umfas­sen­de Lebens­be­schrei­bung pha­sen­wei­se in die Nähe einer sicher­lich meist klu­gen und sach­li­chen Verteidigungsschrift.

Denn man kann Wie­sen­thal auch anders sehen.

Der ame­ri­ka­ni­sche Jurist Eli Rosen­baum, einer sei­ner frü­he­ren Mit­ar­bei­ter und Bewun­de­rer, hat ihn 1996 in einer „Panorama“-Sendung nur nega­tiv charakterisiert.

„Unbe­gabt, ego­ma­nisch, ver­brei­tet unzu­tref­fen­de Infor­ma­tio­nen, eine tra­gi­sche Gestalt.“ Dass Wie­sen­thal ver­schie­de­ne, nicht deckungs­glei­che Lebens­läu­fe ver­fasst hat und die Zahl der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, die er durch­litt, sich bestän­dig ver­mehr­te, räumt auch Segev ein.

Wie­sen­thal war ein Kind der Donau-Mon­ar­chie: am Beginn eines Kata­stro­phen-Jahr­hun­derts als Unter­tan Kai­ser Franz Josephs im Osten Gali­zi­ens gebo­ren. Nach dem Unter­gang des Drit­ten Rei­ches blieb er in Öster­reich – trotz des­sen anti­se­mi­tisch durch­setz­ter Gesellschaft.

Im begin­nen­den digi­ta­len Zeit­al­ter sitzt auch der welt­be­rühm­te altern­de Mann in sei­ner klei­nen Wie­ner Woh­nung und diri­giert hin­ter Zei­tungs­sta­peln, Kar­tei­kar­ten, Ein­woh­ner­li­sten und Tele­fon­bü­chern die inter­na­tio­na­le Jagd auf untergetauchte

NS-Ver­bre­cher. Mit zuneh­men­der Berühmt­heit star­tet er außer­dem eine immer effek­ti­ver wer­den­de poli­ti­sche Öffent­lich­keits­ar­beit. Sei­ne Sym­pa­thie gilt dabei vor allem kon­ser­va­ti­ven Poli­ti­kern und Par­tei­en. Zu Hel­mut Kohl pfleg­te er eine lebens­lan­ge Freund­schaft. Als der deut­sche Bun­des­kanz­ler den ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Rea­gan 1985 auf dem Sol­da­ten­fried­hof in Bit­burg auch den Grä­bern der Waf­fen-SS die Ehre erwei­sen lässt, schweigt Wie­sen­thal zu die­sem Skandal.

Durch sei­ne vor­be­halts­lo­se Sym­pa­thie für den umstrit­te­nen öster­rei­chi­schen Staats­prä­si­den­ten Kurt Wald­heim, der sei­ne Bal­kan-Akti­vi­tä­ten im Dienst der NS-Wehr­macht ver­schwieg, hat sich Wie­sen­thal selbst um den Friedens-

nobel­preis gebracht. Extrem kras­se Züge gewinnt in den sieb­zi­ger Jah­ren sein Kon­flikt mit dem öster­rei­chi­schen Bun­des­kanz­ler Krei­sky, einem der füh­ren­den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Köp­fe Euro­pas. Doch Tom Segev schil­dert die­sen „Zusam­men­prall zwei­er gewal­ti­ger jüdi­scher Egos“ nicht auf der Ebe­ne objek­ti­ver Geschichts­schrei­bung. Er ver­zerrt Krei­sky zur Kari­ka­tur. Denn die­ser hat die Exi­stenz eines jüdi­schen Vol­kes geleug­net und nur von einer Reli­gi­ons- und Kul­tur­ge­mein­schaft gespro­chen. Er hat außer­dem Isra­els Palä­sti­nen­ser-Poli­tik kri­ti­siert und eine mög­li­che Zusam­men­ar­beit Wie­sen­thals mit der Gesta­po ange­deu­tet. In den pole­misch gestal­te­ten Krei­sky-Kapi­teln unter­läuft Segev, das von ihm selbst gesetz­te Niveau.

Tom Segev: Simon Wie­sen­thal: Die Biographie

Sied­ler Ver­lag, 576 Sei­ten, 29,90 €