Buchkritik: Angela Rohr “Der Vogel”

Einst am Beginn der zwanziger Jahre war sie mit dem lyrischen Halbgott Rainer Maria Rilke eng befreundet. Etwas später – 1935 – saß sie dann nebst anderen Damen am Moskauer Krankenbett des sozialistischen Weltliteraten Bertolt Brecht. Auch die Pariser Bohème – Szene war der österreichisch-russischen Autorin Angela Rohr (1890-1985) kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht fremd. Im Spätsommer 1941 verschwindet sie für fast zwei Jahrzehnte in sibirischen Straflagern; am Ende dieser Periode lenkt sie als Landärztin den Pferdeschlitten durch die Taiga.

Leben und Werk dieser exotischen Person sind nun durch den von Gesine Bey vorzüglich kommentierten Sammelband „Der Vogel“ zugänglich geworden. Sie spiegeln ein Kapitel paradoxer und zugleich tragischer deutscher Literaturgeschichte im Jahrhundert der Extreme. Als Tochter des Bahnbeamten und Abgeordneten Karl Müllner wird sie in der mährischen Kleinstadt Znaim geboren. Seit ihrer Pubertät rebelliert sie gegen die väterliche Despotie und die moralisch-religiösen Konventionen des Späthabsburger Reiches. Am Vorabend der europäischen Urkatastrophe von 1914 lebt sie dann im vergammelnden Quartier Latin im Schatten von Notre Dame und schreibt expressionistisch gestylte Erzählungen über sterbende Dirnen und revoltierende Madonnen. Die Texte erschienen in Franz Pfemferts berühmter Zeitschrift „Die Aktion“ und verweisen heute auf den oft vergessenen feministischen Flügel der literarischen Moderne.

Vor den Kriegswirren flüchtet sie auf die Friedensinsel Schweiz. Dort fasziniert sie die Avantgarde im Untergrund von Zürich: die anarchische Kreativität der Dadaisten. Aber auch die emigrierten russischen Berufsrevolutionäre um Lenin finden ihre Sympathie. 1925 folgt sie ihrem dritten Ehemann Wilhelm Rohr nach Moskau und studiert dort Medizin und Psychoanalyse. Gleichzeitig arbeitet sie als russische Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ – bis weit in die Zeit des Dritten Reiches hinein.

1941: das Duell der Diktaturen beginnt. Die sowjetische Westfront wird von den deutschen Invasionsarmeen überrannt. Bis zuletzt hat Stalin auf Hitler und den Nichtangriffspakt von 1939 vertraut und alle Meldungen seiner Kundschafter über einen bevorstehenden Angriff als lächerlich abgewertet. Nun sucht er nach Sündenböcken für sein Versagen. Er findet sie in den deutschen Emigranten, die sogleich als Spione und Landesverräter verhaftet werden. Auch Angela Rohr und ihr Mann, der die Strapazen nicht aushält und 1942 stirbt, landen in einem der überfüllten Hunger-Gefängnisse. Kurz vor diesem Riss in ihrer Biographie konnte sie, gefördert vom späteren ersten Kultusminister der DDR Johannes R. Becher, in der Zeitschrift „Internationale Literatur“ noch zwei Erzählungen veröffentlichen. Die „Erinnerung an Lenin“ schildert in fast hagiographischem Stil ein persönliches Erlebnis im März 1917 auf dem Züricher Hauptbahnhof. Der künftige Führer der Weltrevolution hat den Zug bestiegen, der ihn im Geheimauftrag des Deutschen Kaiserreichs zur Unterminierung Russlands Richtung St. Petersburg bringen wird. Bei der Abfahrt drückt er durch das Abteilfenster der begeistert mitlaufenden Angela die Hand. Er verspricht, dass demnächst die Gefängnisse geöffnet werden sollen. Zum Zeitpunkt seiner Drucklegung (Januar 1941) war dieser Satz angesichts der seit Jahren durchgezogenen stalinistischen Schauprozesse und Säuberungswellen eine mutige Provokation.

Erst am Ende der fünfziger Jahre hat dann Angela Rohr die Kraft gefunden, ihre Erfahrungen im Lager- und Terrorsystem autobiographisch zu verarbeiten. Hauptmotive ihrer Erzählungen „Der Vogel“ und „Die Zeit“ sind bis zum Ekel volle Strafanstalten, Horrortransporte, nächtliche Verhöre, das Zerbrechen des Menschenrechts auf körperliche Intimität.

Bei ihrem Entwurf eines Panoramas aus Hunger, Nacktheit und Tod greift die Verfasserin auf die Sprachformen ihres expressionistischen Frühwerks zurück. Sie erinnert dann an Dantes Unterwelt, an Dostojewskijs „Totenhaus“, an Kafkas Strafkolonie. Erst 1982 gelang es dem österreichischen Kultur-Attache Hans Marte das literarische Vermächtnis der Angela Rohr aus ihrer winzigen Moskauer Wohnung in den Westen zu schmuggeln. Die geplante Umsiedlung der Dichterin in ein Wiener Altersheim scheiterte.

Angela Rohr
Der Vogel
Gesammelte Erzählungen und Reportagen
Herausgegeben von Gesine Bey
Basis Druck Berlin
299 Seiten