Herbert Geberts Buchkritik: “Die Irin” von Rolf Lappert

Megan O’Flynn, die Hauptperson im neuen Breitwand-Epos des Schweizer Autors Rolf Lappert „Auf den Inseln des letzten Lichts, ekelt sich vor dem Genuss von Fleisch. Seit ihrer Kindheit auf dem vermodernden Bauernhof ihres Vaters prägt sie eine franziskanische Liebe zu allen Geschöpfen. Sie redet mit Vögeln, Hunden, Hühnern und Pferden. Sie wächst zu einer Persönlichkeit mit radikalen und militanten Einstellungen, die im Namen des Tierschutzes auch vor Gewaltaktionen nicht zurückschreckt.

Das Studium der Veterinär-Medizin hat sie abgebrochen, denn das Praktikum in einem Londoner Schlachthaus konfrontierte sie mit allen Leidensstationen der Tierhölle. Doch als die Handlung von Lapperts mehr als ein halbes Tausend Seiten umfassenden, raffiniert komponierten Erzählwerk einsetzt, ist Megan bereits tot. Begraben liegt sie auf einer der „Inseln des letzten Lichts“ am äußersten südlichen Rand der Philippinen – weit weg von allen Schifffahrtslinien – die auch durch das Internet nicht erreichbar ist. Ihr Bruder Tobey, seit früherer Kindheit mit ihr eng vertraut und durch eine subtil angedeutete Inzestbeziehung verbunden, hat ihre Spur entdeckt. Ein Fischerboot bringt ihn an die verlassene Küste einer tropischen Traumwelt voller Geheimnisse.

Die gelungene Synthese zwischen Sprachästhetik und Spannungsliteratur formt den Text: faszinierende Naturbilder, die Spiele des Lichts in farbigen Differenzen, die kosmischen Abgründe von Meer und Milchstraße. Tobey bewegt sich in einem Umfeld voller Rätsel. Die Gebäude eines abgewrackten Forschungsinstitus, das sich mit der Sprache der Primaten beschäftigt, verfallen. Undurchsichtige Personen wecken bei ihm nach und nach den Verdacht, synthetische Drogen herzustellen. Der Bonobo-Affe Montgomery und der Schimpanse Chester rücken hingegen durch ihr Verhalten die Utopie einer Brüderlichkeit zwischen Mensch und Tier in Realitätsnähe. Tobey kommt ans Grab seiner Schwester. Er möchte ihr besonders nahe sein und holt ihren halb verbrannten Leichnam ans Tagelicht. Später bedrohen islamistische Gotteskrieger sein Leben. Sein Fluchtversuch auf einem winzigen Boot an der Seite seines Tierbruders Montgomery wird zur ekstatisch geschilderten Todesfahrt.

Der zweite kurze Satz von Lapperts Sprachsymphonie spielt in Irlands ländlicher Provinz Kerry, in der der Autor (1958 in Zürich geboren) schon länger lebt. Sie ist auch der Schauplatz seines 2008 erschienenen Erfolgsromans „Nach Hause schwimmen“ Tobeys Versuch, aus dem depressiven bäuerlichen Milieu auszubrechen und in Dublin eine Band zu gründen, endet im dreieinigen Milieu aus Hunger, Suff und Drogen. Lappert, selbst jahrelang Initiator eines Jazz-Clubs, erzählt äußerst authentisch. Im wiederum weit ausholenden dritten Teil des anschwellenden Romans stehen Megan und die Vorgeschichte der Tobey-Handlung im Mittelpunkt. Die kämpferische Tierschützerin hat vom Mythos der abgelegenen Pazifik-Insel gehört und bietet der dort ansässigen Forschungs-Institution ihre Arbeit an. Nach und nach durchschaut sie das verlogene Paradies, in dem Mensch und Tier nur scheinbar in befriedeter Harmonie leben. Sie entdeckt, dass das Eiland von skrupellosen Kriminellen beherrscht wird. In den Körpern unterirdisch gefangen gehaltener Affen werden extrem gefährliche Viren produziert: Ebola, Sars, Nipa, HIV, Marburg. Die Abnehmer sind anonyme Pharmakonzerne, deren Umsatz sich bei Epidemien steigert. In seiner Schlussphase mutiert Lapperts mit hohen artistischen Anspruch gestaltetes Werk zum Thriller, der mit Gewaltszenen und erotischen Motiven nicht spart. Die Irin Megan und die litauische Biologin Esther begegnen sich

zärtlich, als läge die Insel Lesbos mitten im Pazifischen Ozean. Im melodramatisch hochgestylten, von Edelkitsch nicht ganz freien Finale findet Megan ihre tödlich verwundete Geliebte, die in die Geschäfte der Gangster verwickelt war. Für ihren Leichnam errichtet sie einen Scheiterhaufen. Sie selbst entkleidet sich und schwimmt in einem kultischen Akt der Selbstaufopferung in die Unendlichkeit des Meeres hinein.

In einem Interview nennt Rolf Lappert eine Galerie angloamerikanischer Autoren – von Richard Brautigan bis Jeffrey Eugenides – die ihn beeindruckt und beeinflusst haben. Den einstigen deutschen Großmeister anspruchsvoller Unterhaltungsliteratur Johannes Mario Simmel hat er vergessen.

Rolf Lappert, Auf den Inseln des letzten Lichts. Roman, 544 Seiten, Hanser Verlag.

Vom Autor, der demnächst beim Erlanger Poetenfest gastiert, sind ferner zwei dtv-Taschenbuchausgaben leicht erreichbar:

  • Die Gesänge der Verlierer
  • Nach Hause schwimmen