Lese­pro­ble­me von Grund­schü­lern in Deutsch­land – neu­er Band der IGLU-Stu­die veröffentlicht

For­scher der Uni­ver­si­tät Bay­reuth beteiligt

Prof. Dr. Sabine Hornberg. Foto: Chr. Wißler

Prof. Dr. Sabi­ne Horn­berg. Foto: Chr. Wißler

(UBT) Lese­schwa­che Kin­der erhal­ten in Deutsch­land nicht im erfor­der­li­chen Umfang eine schu­li­sche För­de­rung. In grö­ße­rem Aus­maß als lese­star­ke Kin­der sind sie in der Schu­le von Gewalt­er­fah­run­gen betrof­fen. Dies sind nur eini­ge Ergeb­nis­se, die in dem jetzt erschie­ne­nen drit­ten Berichts­band der Inter­na­tio­na­len Grund­schul-Lese-Unter­su­chung (IGLU) vor­ge­stellt wer­den. Die IGLU-Stu­die, die seit 2001 im Tur­nus von fünf Jah­ren durch­ge­führt wird, unter­sucht Lese­kom­pe­ten­zen am Ende der 4. Jahr­gangs­stu­fe in 45 Län­dern und Regio­nen. Deutsch­land hat sich 2006 zum zwei­ten Mal dar­an beteiligt.

Aus die­ser inter­na­tio­na­len Ver­gleichs­un­ter­su­chung (IGLU 2006) und einer natio­na­len Erwei­te­rungs­stu­die (IGLU‑E 2006) sind Daten von 7.899 Schü­le­rin­nen und Schü­lern in Deutsch­land her­vor­ge­gan­gen. Sie ermög­li­chen reprä­sen­ta­ti­ve Aus­sa­gen über die­je­ni­gen Kin­der im deut­schen Schul­sy­stem, die am Über­gang von der Grund­schu­le zur Sekun­dar­stu­fe ste­hen. Zu den Her­aus­ge­bern und Autoren des drit­ten Bands gehört Sabi­ne Horn­berg, Pro­fes­so­rin für All­ge­mei­ne Päd­ago­gik an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Als Pro­jekt­lei­te­rin hat sie die Erhe­bung und Aus­wer­tung der Daten für IGLU 2006 und IGLU‑E 2006 wesent­lich vorangetrieben.

Gra­de der Lese­kom­pe­tenz: Definitionen

Grund­le­gend für die IGLU-Stu­die ist die Unter­schei­dung zwi­schen fünf Stu­fen der Lese­kom­pe­tenz (I bis V): „Lese­schwa­che“ Kin­der (I und II) sind selbst in gün­sti­gen Fäl­len nur in der Lage, alters­ge­mä­ßen Tex­ten ver­ein­zel­te Infor­ma­tio­nen zu ent­neh­men. Sie gelan­gen nicht zu einem ver­tief­ten Ver­ständ­nis inhalt­li­cher Zusam­men­hän­ge. „Lese­schwie­rig­kei­ten“ (III) lie­gen vor, wenn die Kin­der zwar Infor­ma­tio­nen im Text auf­fin­den und zuein­an­der in Bezie­hung set­zen kön­nen, aber stei­gen­den Lese­an­for­de­run­gen in ihrer wei­te­ren schu­li­schen Lauf­bahn nicht gewach­sen sind. „Lese­star­ke“ Schü­le­rin­nen und Schü­ler (IV und V) kön­nen die Haupt­ge­dan­ken eines Tex­tes erfas­sen und wie­der­ge­ben. Bei aus­ge­zeich­ne­ter Lese­kom­pe­tenz erstreckt sich die­se Fähig­keit nicht nur auf die Dar­stel­lung kon­kre­ter Hand­lungs­ab­läu­fe, son­dern auch auf abstrak­te Sach­ver­hal­te. Die Kin­der kön­nen das Gele­se­ne in Bezie­hung zu eigenen
Erfah­run­gen und Wis­sens­be­stän­den setzen.

Deutsch­land im inter­na­tio­na­len Vergleich

Auf den ersten Blick steht Deutsch­land im Ver­gleich mit ande­ren euro­päi­schen Län­dern kei­nes­wegs schlecht da. Der Anteil der lese­star­ken Kin­der der 4. Jahr­gangs­stu­fe beträgt in Deutsch­land 52,7 Pro­zent; allein in Russ­land ist die­ser Anteil signi­fi­kant höher. 34,8 Pro­zent der Viert­kläss­le­rin­nen und Viert­kläss­ler in Deutsch­land haben Lese­schwie­rig­kei­ten. 12,5 Pro­zent gehö­ren zur Grup­pe der Lese­schwa­chen; nur in den Nie­der­lan­den ist die­ser Anteil signi­fi­kant gerin­ger. Auf­fäl­lig sind regio­na­le Unter­schie­de: In Thü­rin­gen, Bay­ern, Meck­len­burg-Vor­pom­mern und Sach­sen zäh­len mehr als 60 Pro­zent der Viert­kläss­le­rin­nen und Viert­kläss­ler zu den Lese­star­ken; hin­ge­gen bil­den die Stadt­staa­ten Ham­burg, Ber­lin und Bre­men mit 41,5 Pro­zent das Schluss­licht in die­ser Gruppe.

Zen­tra­le Bedeu­tung des fami­liä­ren Umfelds

Sind die Haus­hal­te, in denen die Kin­der auf­wach­sen, so gut aus­ge­stat­tet, dass sie hier Anre­gun­gen zum Lesen erhal­ten? Wer­den die Kin­der von den Eltern dabei unter­stützt, eige­ne kul­tu­rel­le Akti­vi­tä­ten zu ent­wickeln; wird ihre schrift­sprach­li­che Aus­drucks­fä­hig­keit zuhau­se geför­dert? Und sind die Eltern auf­grund ihres Lese­ver­hal­tens den Kin­dern ein Vor­bild? Die im drit­ten Berichts­band der IGLU-Stu­die vor­ge­leg­ten Ergeb­nis­se sind in allen die­sen Fra­gen ein­deu­tig: Sie bele­gen, wel­che zen­tra­le Bedeu­tung ein gün­sti­ges fami­liä­res Umfeld für die Ent­ste­hung von Lese­kom­pe­tenz hat – und damit auch für Erfolgs­er­leb­nis­se im Schul­all­tag, für eine nach­hal­ti­ge Moti­va­ti­on zum Ler­nen, für die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung insgesamt.

Man­geln­de schu­li­sche För­de­rung lese­schwa­cher Kinder

Die IGLU-Stu­die kommt zu dem Ergeb­nis, dass im Durch­schnitt aller Bun­des­län­der nur rund 30 Pro­zent der Kin­der mit Lese­schwä­che eine beson­de­re För­de­rung in der Schu­le erfah­ren. Der Anteil lese­schwa­cher Kin­der, die außer­halb der Schu­le Nach­hil­fe­un­ter­richt erhal­ten, ist hin­ge­gen deut­lich höher – nach Anga­ben der Kin­der liegt er bei über 40 Pro­zent. „Die Bil­dungs­po­li­tik hat, was die Aus­wei­tung schu­li­scher För­der­an­ge­bo­te betrifft, in Deutsch­land einen erheb­li­chen Nach­hol­be­darf“, erklärt Horn­berg. „Im Jahr 2007 hat sich die KMK, also die Stän­di­ge Kon­fe­renz der Kul­tus­mi­ni­ster, auf Grund­sät­ze zur För­de­rung von Kin­dern ver­stän­digt, die beson­de­re Schwie­rig­kei­ten im Lesen, Recht­schrei­ben oder Rech­nen haben. Es ist höch­ste Zeit, dass die­se Vor­ga­ben bun­des­weit kon­se­quent umge­setzt werden.“

Ein­flüs­se der sozia­len Her­kunft auf die Lese­kom­pe­tenz. Fern­seh­kon­sum als Risikofaktor

Weil schu­li­sche För­der­an­ge­bo­te vie­ler­orts feh­len, hat die sozia­le Her­kunft einen umso stär­ke­ren Ein­fluss auf die Lese­kom­pe­tenz. In der Grup­pe der Lese­star­ken ist der Anteil der Kin­der von Aka­de­mi­kern, Beam­ten, Ange­stell­ten im obe­ren und mitt­le­ren Dienst sowie von Tech­ni­kern über­durch­schnitt­lich hoch (51,2 Pro­zent), in der Grup­pe der Lese­schwa­chen liegt er weit unter dem Durch­schnitt (30,6 Pro­zent). Horn­berg: „Im inter­na­tio­na­len Ver­gleich sieht es so aus, als ob es in Deutsch­land weni­ger als in ande­ren Län­dern gelingt, die durch das sozia­le Umfeld beding­ten Benach­tei­li­gun­gen durch das Bil­dungs­sy­stem zu kom­pen­sie­ren.“ Ungün­stig wirkt sich in Deutsch­land – auch hier­zu legt IGLU kon­kre­te Zah­len vor – ein Migra­ti­ons­hin­ter­grund aus. Lese­schwa­che Kin­der aus Fami­li­en mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund sind in kul­tu­rel­ler und sozia­ler Hin­sicht deut­lich benach­tei­ligt gegen­über lese­schwa­chen Kin­dern, deren Eltern in Deutsch­land gebo­ren sind.
Ein Risi­ko­fak­tor ist der Fern­seh­kon­sum: 59,1 Pro­zent der lese­schwa­chen Kin­der, aber nur 9,8 Pro­zent der lese­star­ken Kin­der gaben an, täg­lich mehr als 3 Stun­den fern­zu­se­hen. 29,6 Pro­zent der lese­schwa­chen Kin­der ant­wor­te­ten, dass sie täg­lich sogar mehr als 5 Stun­den vor dem Fern­se­her verbringen.

Lese­kom­pe­tenz und Gewalt­er­fah­run­gen in der Schule

Nahe­zu 80 Pro­zent der Schü­le­rin­nen und Schü­ler erklär­ten, dass sie gern in die Schu­le gehen. Dies trifft fast glei­cher­ma­ßen auf alle Grup­pen zu. Aber bei der Fra­ge, ob sie sich in der Schu­le sicher füh­len, unter­schei­den sich die Ant­wor­ten signi­fi­kant: 60,3 Pro­zent der Lese­star­ken, aber nur 40,4 Pro­zent der Kin­der mit Lese­schwie­rig­kei­ten füh­len sich in der Schu­le sicher. Bei den Lese­schwa­chen liegt der Anteil sogar nur leicht über 30 Pro­zent (32,7 Pro­zent bei den Leg­asthe­ni­kern, 31 Pro­zent bei den ande­ren lese­schwa­chen Kin­dern). Mehr als die Hälf­te der Kin­der mit Lese­pro­ble­men bejah­ten die Fra­ge: „Bist du im letz­ten Monat in der Schu­le ver­letzt oder geschla­gen wor­den?“ Und mehr als 20 Pro­zent die­ser Kin­der erklär­ten, sie sei­en von einem ande­ren Schü­ler unter­drückt und gequält worden.

„Es gibt eine unver­kenn­ba­re Kor­re­la­ti­on zwi­schen dem Grad der Lese­schwä­che und dem Aus­maß per­sön­li­cher Gewalt­er­fah­run­gen in der Schu­le“, erklärt Horn­berg. „Die Ursa­chen dafür müs­sen auf­ge­klärt wer­den. Mög­li­cher­wei­se bewir­ken ent­mu­ti­gen­de, durch Lese­pro­ble­me beding­te Miss­erfol­ge eine ängst­li­che Grund­hal­tung, die sich nicht zuletzt auch in der Kör­per­spra­che aus­drückt. Das könn­te dazu bei­tra­gen, dass die­se Kin­der in der Schu­le öfter zum Opfer von Gewalt­ta­ten werden.“

Ver­öf­fent­li­chung:

Wil­fried Bos, Sabi­ne Horn­berg, Karl-Heinz Arnold, Gabrie­le Faust, Lili­an Fried, Eva-Maria Lan­kes, Knut Schwip­pert, Irmela Tar­el­li, Rena­te Val­tin (Hrsg.):
IGLU 2006 – die Grund­schu­le auf dem Prüf­stand. Ver­tie­fen­de Ana­ly­sen zu Rah­men­be­din­gun­gen schu­li­schen Ler­nens, Mün­ster et al. 2010