Wor­te in die Zeit – 15. Sonn­tag im Jahr

Von Johann Wolf­gang von Goe­the stammt der Aus­spruch: „Edel sei der Mensch, hilf­reich und gut!“ – wir alle ken­nen die­sen Spruch wahr­schein­lich. Im heu­ti­gen Evan­ge­li­um, lie­be Lese­rin­nen und Leser, lie­be Mit­chri­sten, da wer­den wir mit einem ganz ähn­li­chen Aus­spruch, der aber auch gleich­zei­tig Anspruch ist, kon­fron­tiert: „Lie­be dei­nen Näch­sten wie dich selbst!“ (Lk 10, 27).

Doch wenn wir in unse­re Lebens­wirk­lich­keit hin­ein­se­hen – ist da der Anspruch Jesus, den er im Evan­ge­li­um for­mu­liert, nicht genau­so welt- und wirk­lich­keits­fern wie der Aus­spruch Goethes?

Wagen wir noch ein­mal einen Blick in unse­re Lebens­wirk­lich­keit, in unse­re moder­ne Gesell­schaft. Dort ist doch – trotz aller har­ten Ansprü­che – schein­bar alles gere­gelt. Wir haben unse­re Ein­rich­tun­gen, die sich um Alte und Kran­ke küm­mern, die sich der soge­nann­ten Sozi­al­fäl­le anneh­men. Gott sei Dank ist das so!

Aber die­nen sol­che Ein­rich­tun­gen nicht manch­mal sehr der eige­nen Gewis­sens­be­ru­hi­gung? Ich kann mich zufrie­den in mei­nen Ses­sel zurück­leh­nen. Und außer­dem wird wohl kaum einer ver­lan­gen kön­nen, dass ich wie eine Mut­ter The­re­sa nach Kal­kut­ta aus­wan­de­re. Dazu kommt für mich noch eine weit gewich­ti­ge­re Tat­sa­che: Lau­fen wir selbst in unse­rem Den­ken nicht manch­mal Gefahr, dass wir auf ein­mal die Fra­ge nach Kosten und Nut­zen im Hin­ter­kopf haben? „Was bringt mir das?“ – so oder ähn­lich lau­ten heu­te oft die Aus­sa­gen vie­ler Zeit­ge­nos­sen. Selbst­lo­sig­keit scheint, wenn man sol­che Sät­ze hört, in der moder­nen Gesell­schaft abhan­den gekom­men zu sein. Oder?

Nun ja, wen wun­dert es eigent­lich, wenn Men­schen nur noch in Sta­ti­sti­ken und Zah­len­spie-geln auf­tau­chen. Bleibt uns über­haupt noch die Fra­ge, wie wir in unse­rer Gesell­schaft mit Leid und Schmerz, mit Kran­ken und Lei­stungs­un­fä­hi­gen umge­hen. Sind das heut­zu­ta­ge nicht weit­ge­hend Tabu-The­men gewor­den? Und wenn es um das kon­kre­te Hel­fen geht, tut man sich ja auch oft schwer. Leich­ter fällt es, dem Näch­sten zu hel­fen, wenn er der glei­chen (sozia­len) Schicht ange­hört. Gut, wenn kei­ne Bar­rie­ren da sind. Wie ist es aber, wenn es sich um einen han­delt, den ich nun mal nicht aus­ste­hen kann? Denkt man da dann nicht sehr schnell in „Wenn und Aber“? Hat man da nicht sehr schnell Ent­schul­di­gun­gen und Aus­re­den an der Hand, um sich aus der Ver­ant­wor­tung für den Mit­men­schen zu steh­len. Kommt man da – kom­men wir da nicht sehr schnell zu der Fra­ge: „War­um soll ich mei­nen Näch­sten über­haupt lie­ben?“ und: „Wer ist über­haupt mein Nächster?“

Oder schlägt da nicht wirk­lich schluss­end­lich das Prin­zip durch: „Jeder ist sich selbst der Näch­ste!“ und „War­um soll ich mich um den ande­ren kümmern?“

Die Fra­gen und Ein­stel­lun­gen, die ich gera­de etwas schwarz­se­he­risch ange­ris­sen habe, sind ja nichts Neu­es – auch der Geset­zes­leh­rer im Lukas-Evan­ge­li­um hat sich mit all die­sen Fra­gen aus­ein­an­der­ge­setzt und bis zu sei­ner Begeg­nung mit die­sem Jesus von Naza­reth offen­sicht­lich kei­ne befrie­di­gen­den Ant­wor­ten bekom­men. Und die Ant­wort Jesu auf all die­se Fra­gen? – Die fin­det sich, mei­ne ich, auch recht gut in einem Mär­chen von Leo Tol­stoi wieder:

„Wel­ches ist die rech­te Zeit für den Beginn eines Wer­kes? Wel­che Men­schen sind die unent­behr­lich­sten? Wel­ches von allen Wer­ken ist das Wich­tig­ste?“ – Die­se drei Fra­gen beschäf­ti­gen den König eines Lan­des unab­läs­sig. Aber alle Gelehr­ten blei­ben ihm die Ant­wort schul­dig. Also macht er sich als Pil­ger auf den Weg zu einem Ein­sied­ler. Hier hofft er die gewünsch­te Ant­wort zu fin­den. Der Ein­sied­ler lädt ihn ein, eine Wei­le sei­ne Lebens­form zu tei­len. Und so hilft der König dem Ein­sied­ler beim Bestel­len des Fel­des, er küm­mert sich um einen Schwer­ver­letz­ten, der in der Ein­sie­de­lei Zuflucht such­te und bewahrt ihn so vor dem siche­ren Tod.

Als der König den Ein­sied­ler wie­der ver­lässt, hat­te er sich durch sein eige­nes Tun die Ant­wor­ten selbst gegeben:

Die wich­tig­ste Zeit ist der jewei­li­ge Augenblick!

Der unent­behr­lich­ste Mensch ist der­je­ni­ge, dem man gera­de begegnet!

Das wich­tig­ste Werk ist, ihm Gutes zu tun!“

Ant­wor­ten, die auch für uns bedeut­sam sind, Ant­wor­ten auch auf die Fra­ge: Wer ist mein Näch­ster. Mein Näch­ster ist dann ganz ein­fach der, der hier und jetzt mei­ne Hil­fe braucht, ganz gleich, wer oder was er ist.

Es ist mir schon klar: auch wenn wir danach han­deln, kön­nen wir nicht alle Not lin­dern. Aufs Gan­ze gese­hen ist das, was wir tun, eher wie ein Trop­fen auf den hei­ßen Stein.

Aber für den Men­schen, dem wir hel­fen, und für uns selbst ist es mit Sicher­heit mehr: wir brin­gen näm­lich damit Got­tes Barm­her­zig­keit und Lie­be zu den Men­schen und in die­se Welt – wir machen dadurch die Welt etwas gött­li­cher und damit auch mensch­li­cher. Und das ist es doch alle­mal wert! Oder?

Ich wün­sche Ihnen einen geseg­ne­ten Sonn­tag und einen guten Start in die kom­men­de Woche!

Ihr Hubert Tres­ke, Don Bos­co Forchheim