Leser­brief: „Rad­ver­kehrs­stra­te­gie“

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Sehr geehr­te Damen und Herren!

Anfang März die­ses Jah­res hat der Ber­li­ner Senat eine neue Rad­ver­kehrs­stra­te­gie beschlos­sen. Bei einer ersten Durch­sicht fiel mir nach­fol­gen­de Pas­sa­ge ins Auge:

„Benut­zungs­pflicht von Rad­we­gen überprüfen

Ver­schie­de­ne Unter­su­chun­gen sowie die Unfall­ana­ly­sen der Poli­zei haben nach­ge­wie­sen, dass bau­li­che Rad­we­ge im Sei­ten­raum häu­fig ein Sicher­heits­ri­si­ko dar­stel­len, ins­be­son­de­re wenn kein guter Sicht­kon­takt an Kno­ten­punk­ten und Grund­stücks­zu­fahr­ten gege­ben ist. Auch ein zügi­ges Vor­an­kom­men ist auf sol­chen Rad­we­gen häu­fig kaum mög­lich. Der Gesetz­ge­ber und die Recht­spre­chung haben des­halb die Benut­zungs­pflicht von Rad­we­gen auf Aus­nah­me­fäl­le beschränkt. Für vie­le Rad­we­ge wur­de die Benut­zungs­pflicht bereits auf­ge­ho­ben, wei­te­re Abschnit­te wer­den noch geprüft.

Die Benut­zungs­pflicht von Rad­we­gen ist auf Aus­nah­me­fäl­le zu beschrän­ken, … ist die Auf­he­bung der Benut­zungs­pflicht zügig umzu­set­zen, wei­ter­hin benut­zungs­pflich­ti­ge Rad­we­ge sol­len auf den in der ERA gefor­der­ten Stan­dard gebracht werden.“

Vor etwa ein­ein­halb Jah­ren schrieb mir ein Mit­glied des Bam­ber­ger Stadt­rats: „Sicher­heit muss ober­ste Prio­ri­tät haben.“ Guten Glau­bens, so unter­stel­le ich, warb es um Ver­ständ­nis für die restrik­ti­ve Hal­tung der Stadt­ver­wal­tung gegen­über dem Rad­ver­kehr. Doch wie damals (Rad­fahr­ver­bot gegen die Ein­bahn­rich­tung) gilt auch jetzt (Rad­weg­be­nut­zungs­pflicht): Genau die­se Vor­ge­hens­wei­se erhöht das Unfall­ri­si­ko. Durch­ge­hend hat die Frei­ga­be von Ein­bahn­stra­ßen für Rad­ver­kehr in Gegen­rich­tung die Unfall­zah­len gesenkt. Nach wie vor ver­un­glücken die mei­sten Radler/​innen, weil sie Rad­we­ge benut­zen und sich dort in fal­scher Sicher­heit wie­gen. Gemäß der Stra­ßen­ver­kehrs-Ord­nung dür­fen bei­de Restrik­tio­nen nur in begrün­de­ten Aus­nah­me­fäl­len, zur Abwehr einer das all­ge­mei­ne Maß erheb­lich über­stei­gen­den Gefah­ren­la­ge ange­ord­net wer­den. All­ge­mei­ne Sicher­heits­er­wä­gun­gen sind, höchst­rich­ter­lich bestä­tigt, kein zuläs­si­ger Beweggrund.

In der Bam­ber­ger Rad­ver­kehrs­stra­te­gie, beschlos­sen im Mai 2012, ist die Benut­zungs­pflicht der Rad­we­ge nicht ein ein­zi­ges Mal ange­spro­chen. Die Emp­feh­lun­gen für Rad­ver­kehrs­an­la­gen (ERA 2010) wer­den nur ein­mal erwähnt: Zum Pro­jekt „Bau­stel­len­ma­nage­ment“ heißt es: „Bei der Ein­rich­tung von Bau­stel­len sind hin­sicht­lich der Siche­rung die ‚Richt­li­ni­en für die Siche­rung von Arbeits­stel­len an Stra­ßen’ (RSA) zu beach­ten. Ergän­zend zu den RSA sind wei­te­re Maß­nah­men nach ERA 10 zu empfehlen.“

Zur Erläu­te­rung:

Die ERA 2010 bil­den den aner­kann­ten Stand der Tech­nik ab. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber muß erwähnt wer­den: Aus Sicht des Rad­ver­kehrs las­sen sie noch zu vie­le bau­li­che Sicher­heits­ri­si­ken zu, bei­spiels­wei­se unzu­rei­chen­de seit­li­che Sicher­heits­räu­me. Die All­ge­mei­ne Ver­wal­tungs­vor­schrift zur Stra­ßen­ver­kehrs-Ord­nung (VwV-StVO), eine bin­den­de Rechts­norm, gibt vor: „Hin­sicht­lich der Gestal­tung von Rad­ver­kehrs­an­la­gen wird auf die Emp­feh­lun­gen für Rad­ver­kehrs­an­la­gen (ERA) der For­schungs­ge­sell­schaft für Stra­ßen- und Ver­kehrs­we­sen (FGSV) in der jeweils gül­ti­gen Fas­sung hingewiesen.“

Meh­re­re Bun­des­län­der haben die Inhal­te der ERA als für Neu- und wesent­li­chen Umbau ver­bind­li­che Vor­ga­be erlas­sen. In eige­ner Bau­last wer­den sie umge­setzt. Ande­re Bau­last­trä­ger wie Kom­mu­nen erhal­ten För­der­mit­tel nur, wenn sie dies gleich­falls tun.

Im Frei­staat Bay­ern gibt es einen sol­chen Erlaß nicht. Innen­mi­ni­ster Her­mann begrün­de­te dies mit der Vor­ga­be in der VwV-StVO. Die­se mache einen geson­der­ten Erlaß ent­behr­lich, da sie unmit­tel­bar gel­te. Nur sind mir hier­aus gezo­ge­ne Kon­se­quen­zen bis­lang nicht bekannt.

Die vor­ste­hend zitier­ten RSA wer­den sei­tens der Ober­sten Bau­be­hör­de im Baye­ri­schen Staats­mi­ni­ste­ri­um des Innern als ver­al­tet ange­se­hen. Sie berück­sich­ti­gen nicht die für den heu­ti­gen Fahr­rad­be­stand erfor­der­li­chen Quer­schnit­te (Rad­ver­kehrs­hand­buch Radl­land Bay­ern, Mai 2011). Bam­berg hin­ge­gen beruft sich aus­drück­lich auf sie.

Fazit:

In Bam­berg weiß ich von kei­ner ein­zi­gen Rad­ver­kehrs­an­la­ge, wel­che die Vor­ga­ben der ERA 2010 erfüllt. Viel­fach sind selbst auf benut­zungs­pflich­ti­gen Rad­we­gen gar die wesent­lich gerin­ge­ren Anfor­de­run­gen der recht­lich ver­bind­li­chen VwV-StVO miß­ach­tet. Doch die­se „ent­spre­chen der Unter­gren­ze, nach der eine Rad­we­ge­be­nut­zungs­pflicht gege­be­nen­falls noch ver­tret­bar sein kann“ (Rad­ver­kehrs­hand­buch). Aber die ver­ant­wort­li­chen Behör­den wei­gern sich kon­se­quent, die (seit dem Herbst 1997!) bestehen­de Rechts­la­ge, geschwei­ge denn den Stand der Tech­nik anzuerkennen.

Im Ver­gleich zu benut­zungs­pflich­ti­gen sol­len nach Mei­nung der Ober­sten Bau­be­hör­de auch „nicht benut­zungs­pflich­ti­ge Rad­we­ge die glei­chen Qua­li­täts­kri­te­ri­en hin­sicht­lich, Brei­te, Ober­flä­chen­ge­stal­tung und Sicher­heit in Kno­ten­punk­ten erfül­len – sie sind kei­ne Rad­we­ge ‚2. Klasse’!“

Das Rad­ver­kehrs­hand­buch trifft eine ein­deu­ti­ge Wertung:

„Bes­ser kei­ne als eine schlech­te Radverkehrsanlage!“

Die her­aus­ge­ben­de Behör­de unter­steht dem Dienst­herrn der Poli­zei, die sich in Bam­berg gleich­falls wei­gert, den heu­ti­gen Wis­sens­stand zu akzep­tie­ren. Als grund­le­gen­de Erkennt­nis nennt das Radverkehrshandbuch:

„Rad­ver­kehr kann nur dann effek­tiv und kosten­gün­stig geför­dert wer­den, wenn die För­de­rung syste­ma­tisch und kon­se­quent geschieht.“

Ob wir jemals erle­ben, daß sich die für Bam­berg Ver­ant­wort­li­chen als lern­fä­hig erweisen?

Mit freund­li­chen Grüßen
Wolf­gang Bönig
Mar­tin-Ott-Stra­ße 8