Religion(en) in Deutsch­land: Plä­doy­er für eine umfas­sen­de Forschungsinitiative

Symbolbild Religion

Prof. Dr. Chri­stoph Bochin­ger, Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth und Vor­sit­zen­der der Deut­schen Ver­ei­ni­gung für Reli­gi­ons­wis­sen­schaft, hat in den letz­ten fünf Jah­ren das Natio­na­le For­schungs­pro­gramm „Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Staat und Gesell­schaft“ in der Schweiz gelei­tet, des­sen Ergeb­nis­se kürz­lich ver­öf­fent­licht wur­den. Nach dem erfolg­rei­chen Abschluss des Pro­gramms for­dert er ein ähn­lich umfas­sen­des Pro­jekt für Deutschland.

In kei­nem ande­ren euro­päi­schen Land sind die in der Bevöl­ke­rung ver­brei­te­ten Ein­stel­lun­gen zur Reli­gi­on so syste­ma­tisch unter­sucht wor­den, wie dies wäh­rend der letz­ten fünf Jah­re in der Schweiz gesche­hen ist. Dort hat sich das Natio­na­le For­schungs­pro­gramm „Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Staat und Gesell­schaft“ mit der Fra­ge befasst, wel­che Bedeu­tun­gen und Funk­tio­nen Reli­gi­on heu­te hat – einer­seits im Leben des Ein­zel­nen, ande­rer­seits in der Schwei­zer Öffent­lich­keit. Prä­si­dent des Lei­tungs­gre­mi­ums war Prof. Dr. Chri­stoph Bochin­ger, Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Er ist Vor­sit­zen­der der Deut­schen Ver­ei­ni­gung für Reli­gi­ons­wis­sen­schaft. Mit Blick auf die detail­lier­ten Ergeb­nis­se, die seit kur­zem in Buch­form vor­lie­gen, for­dert er für Deutsch­land eine ähn­li­che For­schungs­in­itia­ti­ve. Die­se wäre nicht allein in reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­cher Hin­sicht auf­schluss­reich, son­dern könn­te auch einen wert­vol­len Bei­trag zur poli­ti­schen Kul­tur leisten.

„Als der Schwei­ze­ri­sche Natio­nal­fonds SNF mich im Jahr 2006 ein­lud, als Prä­si­dent der Lei­tungs­grup­pe das Pro­gramm zu koor­di­nie­ren, habe ich die­se Auf­ga­be sehr gern über­nom­men“, berich­tet Bochin­ger im Rück­blick. „In Art und Umfang war es ein ein­zig­ar­ti­ges Vor­ha­ben, das der Schwei­ze­ri­sche Bun­des­rat in Auf­trag gege­ben hat­te. Mehr als 130 Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler haben in 28 auf­ein­an­der abge­stimm­ten Pro­jek­ten dar­auf hin­ge­ar­bei­tet, ein mög­lichst umfas­sen­des Bild von der heu­ti­gen ‚reli­giö­sen Land­schaft‘ in der Schweiz zu ent­wickeln. Das Resul­tat ist beein­druckend – nicht zuletzt weil sich jetzt empi­risch bele­gen lässt, wie leicht über­hitz­te öffent­li­che Debat­ten den Blick auf die Rea­li­tä­ten ver­stel­len können.“

Zur Bedeu­tung von Reli­gi­on: Gegen­läu­fi­ge Ten­den­zen im pri­va­ten und im öffent­li­chen Leben

Vie­le der Ent­wick­lun­gen, die das For­schungs­pro­gramm zuta­ge geför­dert hat, sind nach Auf­fas­sung von Bochin­ger ähn­lich auch in Deutsch­land zu beob­ach­ten. Für die ein­zel­nen Bür­ger wird Reli­gi­on immer unwich­ti­ger, tra­di­tio­nel­le Bin­dun­gen an Kir­chen und Kon­fes­sio­nen lösen sich auf. Para­do­xer­wei­se aber wächst die Bedeu­tung der Reli­gi­on in öffent­li­chen Dis­kus­sio­nen und in der Bericht­erstat­tung der Medi­en. Dadurch ent­steht der Ein­druck, es gebe eine „Rück­kehr der Religion“.

„In Wirk­lich­keit aber“, erklärt Bochin­ger, „han­delt es sich um eine Ent­wick­lung im Dis­kurs über Reli­gi­on. Es fällt dabei auf, dass reli­giö­se Über­zeu­gun­gen oder die Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit häu­fig als Erklä­run­gen für Sach­ver­hal­te ange­führt wer­den, die in Wahr­heit ganz ande­re, empi­risch nach­weis­ba­re Grün­de haben. In der For­schung spricht man von einer ‚Reli­gio­ni­sie­rung‘, die das öffent­li­che Reden über kul­tu­rel­le Viel­falt und über sozia­le Kon­flik­te bestimmt.“ Reli­gi­on wer­de daher in den Medi­en zumeist nicht als eigen­stän­di­ges The­ma, son­dern im „Hucke­pack“ mit ande­ren The­men, wie etwa Migra­ti­ons- oder Gen­der-Pro­ble­men, angesprochen.

Reli­gi­on als sozia­les Unter­schei­dungs­kri­te­ri­um: Christ sein durch Abgren­zung vom Islam?

Zugleich – und auch dies geht aus den Unter­su­chun­gen in der Schweiz her­vor – dient die Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit immer öfter dazu, Men­schen zu kate­go­ri­sie­ren. Gewohn­te natio­na­le, kul­tu­rel­le oder eth­ni­sche Unter­schei­dungs­merk­ma­le wer­den mit reli­giö­sen Bedeu­tun­gen auf­ge­la­den, oder sie wer­den durch reli­giö­se Kri­te­ri­en ersetzt. Damit wächst die Nei­gung, Reli­gi­on als Instru­ment für sozia­le Ab- und Aus­gren­zun­gen zu ver­wen­den. Ste­reo­ty­pe ver­drän­gen dann die Bereit­schaft, sich auf dif­fe­ren­zier­te Wei­se mit Men­schen aus­ein­an­der­zu­set­zen, die als fremd wahr­ge­nom­men werden.

Für äußerst bedenk­lich hält es Bochin­ger auch, wenn Men­schen – Indi­vi­du­en oder Grup­pen – sich eine christ­li­che Iden­ti­tät zuschrei­ben, nur um sich bei­spiels­wei­se vom Islam abzu­gren­zen. Reli­gi­ös auf­ge­la­de­ne Kon­flik­te wür­den auf die­se Wei­se zemen­tiert, weil reli­gi­ons­be­ding­te Unter­schie­de als unüber­wind­lich gel­ten. Was „Chri­sten­tum“ oder „Islam“ eigent­lich ist, gera­te dabei aus dem Blick.

Plä­doy­er für eine ver­gleich­ba­re Initia­ti­ve in Deutsch­land: Ein Bei­trag zur poli­ti­schen Kultur

Die neu­en For­schungs­er­geb­nis­se aus der Schweiz las­sen deut­lich die gesell­schaft­li­chen Kon­flikt­po­ten­zia­le erken­nen, die in der­ar­ti­gen Ent­wick­lun­gen stecken. Daher wünscht sich Bochin­ger, der an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth seit vie­len Jah­ren zu Fra­gen der reli­giö­sen Gegen­warts­kul­tur forscht, ein ähn­lich aus­ge­rich­te­tes For­schungs­pro­gramm für Deutsch­land: „Eine sol­che Initia­ti­ve könn­te auf den Erfah­run­gen auf­bau­en, die wir in den letz­ten fünf Jah­ren mit dem Schwei­zer Pro­gramm gemacht haben, und des­sen Unter­su­chungs­me­tho­den wei­ter verfeinern.“

Den reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­ge­winn betrach­tet er dabei kei­nes­wegs als Selbst­zweck. Denn umfas­sen­de, metho­disch gesi­cher­te Infor­ma­tio­nen zu den sehr unter­schied­li­chen Fak­to­ren, die in Deutsch­land den Umgang mit dem The­ma Reli­gi­on bestim­men, hät­ten unmit­tel­bar auch einen prak­ti­schen Nut­zen. Sie könn­ten wesent­lich dazu bei­tra­gen, Dis­kur­se über poli­ti­sche oder sozia­le Kon­flik­te sowie über die Nor­men eines zivi­len Mit­ein­an­ders zu ver­sach­li­chen. „Eine vali­de Daten­ba­sis wür­de der Wis­sen­schaft hel­fen, popu­li­sti­schen Schein­ar­gu­men­ta­tio­nen, die sich will­kür­lich auf reli­giö­se Zuge­hö­rig­kei­ten und Iden­ti­tä­ten beru­fen, den Boden zu ent­zie­hen“, erklärt Bochinger.

Ver­an­stal­tungs­hin­weis:

Die Viel­falt von Reli­gio­nen und Kul­tu­ren in Deutsch­land ist The­ma beim Wis­sen­schafts­tag der Euro­päi­schen Metro­pol­re­gi­on Nürn­berg, der am 20. Juli 2012 in Erlan­gen statt­fin­det. Prof. Dr. Chri­stoph Bochin­ger wird dort am Panel „Inte­gra­ti­on der Kul­tu­ren“ teil­neh­men. Die Teil­nah­me ist kosten­los, eine Online-Anmel­dung ist noch mög­lich unter:
http://​wis​sen​schafts​tag​.metro​pol​re​gi​onnuern​berg​.de/​a​n​m​e​l​d​ung

Ver­öf­fent­li­chung:

Chri­stoph Bochin­ger (Hg.),
Reli­gio­nen, Staat und Gesellschaft.
Die Schweiz zwi­schen Säku­la­ri­sie­rung und reli­giö­ser Vielfalt.
NZZ Libro, Zürich 2012. 284 S.

Kon­takt­adres­se für wei­te­re Informationen:

Prof. Dr. Chri­stoph Bochinger
Lehr­stuhl Reli­gi­ons­wis­sen­schaft II
Uni­ver­si­tät Bayreuth
D‑95440 Bayreuth
Tel.:+49 (0)921 55 4155
E‑Mail: christoph.​bochinger@​uni-​bayreuth.​de