Fort­set­zungs­ro­man: “Mamas rosa Schlüp­fer” von Joa­chim Kort­ner, Teil 31

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Ber­lin 1945

„Mor­gen fahrn wir nach Ber­lin-Char­lot­ten­burg in die Uhland­stra­ße. Ihr kennt doch die Frau Snura, die euch schon in der Sedan­stra­ße sol­che Spuk­ge­schich­ten und Gespenst­er­sachn erzählt hat.“.

In die­sem Som­mer ver­kehr­ten die ersten Per­so­nen­zü­ge wie­der eini­ger­ma­ßen zuver­läs­sig. Vier Stun­den Fahrt, manch­mal sogar rück­wärts, dann wie­der auf offe­ner Strecke anhal­ten. End­lich kam Hed­wig mit ihren bei­den Jüng­sten in der Rui­ne Ber­lin an. Vom ein­sti­gen Glas­dach des Haupt­bahn­hofs war nur noch ein zer­fetz­tes Stahl­ske­lett geblie­ben. Glas­fen­ster­tei­le bau­mel­ten an Dräh­ten her­ab und klirr­ten in der zugi­gen Luft anein­an­der. Zwi­schen den stäh­ler­nen Rip­pen der Dach­trä­ger flat­ter­ten Doh­len umher.Vor dem Haupt­bahn­hof hat­te sich die einst statt­li­che Stra­ße in einen meter­brei­ten Pfad ver­wan­delt. Die Über­re­ste der stol­zen Häu­ser­fron­ten türm­ten sich jetzt zu grau­en Schutt­ber­gen. Die Luft roch verbrannt.

„Richard, wo bist du?“, sprach Jank vor sich hin.
„Wie kommst du denn auf Richard?“
„Mama, weil’s da steht, auf der Pap­pe da.“

Kaum einer, den sie frag­ten, wuss­te, wo Char­lot­ten­burg oder gar ihre gesuch­te Uhland­stra­ße ist. Die mei­sten selbst Flücht­lin­ge, zogen Hand­wa­gen, tru­gen Ruck­säcke, waren auf der Suche nach irgend­wem oder irgend­et­was. Mill erschie­nen die vie­len ste­hen geblie­be­nen Haus­schorn­stei­ne wie ein Wald, der nur noch aus Stäm­men besteht.

„War­um ham die hier so gro­ße Kel­ler­lö­cher in der Straße?“
„Das sind die U‑Bahnschächte. Die sind mit Bret­tern ver­na­gelt. Da ist frü­her mal eine Eisen­bahn unter der Erde gefahren.“

Über­all schuf­te­ten staub­be­deck­te Kopf­tuch­frau­en. Sie hol­ten Zie­gel­stei­ne aus den Rui­nen­ber­gen und lie­ßen sie auf lan­gen Bret­ter­rut­schen hin­un­ter­glei­ten. Ande­re Frau­en klopf­ten mit Häm­mern den alten Mör­tel von den Stei­nen ab. Wie­der ande­re reich­ten sie von Hand zu Hand wei­ter. Die letz­te sta­pel­te sie in gro­ßen Säu­len auf. Auf den Mau­er­re­sten, die wie schma­le Trep­pen nach oben führ­ten, mach­ten bar­fü­ßi­ge Jun­gen Mut­pro­ben im Hochklettern.

„Mama, war­um gibtsn da nur Fraun?“
„Die Män­ner sind tot oder in Gefangenschaft.“
„Mama, da steht ja Uhlandstraße!“

Jank deu­te­te auf das Straßenschild.

Sie waren zu müde, um sich zu freu­en. Sie waren nur erlöst. Im ersten Stock der Uhland­stra­ße 14 fand Hed­wig ein Stück Pap­pe an der Tür, auf dem in gro­ßen Druck­buch­sta­ben A. SNURA zu lesen war. Auch nach gedul­di­gem Klin­gel­dre­hen, lau­tem Rufen und Pochen öff­ne­te nie­mand. Sie ruh­ten sich erst ein­mal auf der Trep­pe aus und aßen den Zwie­back. Die Jun­gen sahen, dass die Uhland­stra­ße 14 kei­ne Bom­be abge­kriegt hatte.

„Mama, hier riecht‘s so gut nach Boh­ner­wachs wie in der Sedanstraße.“

Mill schnup­per­te genüss­lich. Nach einer Wei­le schnauf­te die Frau Snura mit einem vol­len Ein­kaufs­netz die Haus­trep­pe hoch.

„Jesus­ma­ri­a­un­d­jo­sef, Hedl! Nu, wie geht euch? Gutt?“

Die bei­den Frau­en lagen sich in den Armen, schluchz­ten und spar­ten nicht mit ihren Tränen.

„Alles hat man ver­lo­ren, aber den Kin­dern geht‘s gutt.“

Hed­wig ver­such­te, die Flen­ne­rei zu been­den. Mill und Jank stan­den hilf­los und ver­le­gen dane­ben und guck­ten weg.

„Nu kommt ma hibsch rein in die gut­te Stu­be. Ihr misst ja hun­de­mie­de sein von dem lan­gen Rum­ge­kott­le mit dem Zuge. Ich mach euch jetz erst amal a heißn Mucke­fuck, dass ihr mech­tet zu Kräftn komm.“

Zum ersten Mal seit meh­re­ren Mona­ten bis­sen sie wie­der in Brot, das kei­ne Strei­fen hat­te. Es war etwas unge­wohnt und Mill kau­te sogar brav die Kru­ste klein. Auf dem Küchen­herd mit den vie­len Eisen­rin­gen röste­te Frau Snura Brot­schei­ben und bekratz­te sie mit etwas Mar­ga­ri­ne. Mill und Jank kau­ten mit geschlos­se­nen Mün­dern. So hat­ten sie es gelernt. Sie wuss­ten, dass ihrer Mut­ter so etwas gefiel und blick­ten sie dabei erwar­tungs­voll an, ob sie auch merk­te, wie gebil­det sie kauten.

„Mor­gen geht’s inna Zoo. Aber jetzt misst ihr erst amal tich­tich schnopln.“

Mit geüb­tem Griff hol­te sie hin­ter einem Vor­hang einen Sta­pel durch­ge­le­ge­ner Matrat­zen hervor.

„Frau Snura, in Oppeln habm sie uns immer sol­che Gespen­ster­ge­schichtn erzählt. Bitt­e­bit­te, noch­mal so eine!“

Mill ver­such­te, sie mit sei­nem bewähr­ten Bet­tel­ton zu erwei­chen. Sie wur­den auf den näch­sten Ber­lin­be­such ver­trö­stet. Zuerst konn­ten die Jun­gen dem Gespräch der bei­den Frau­en noch fol­gen. Bald hol­te sie aber ihre woh­li­ge Erschöp­fung hin­über in einen fried­li­chen Schlaf.

Am näch­sten Mor­gen wären sie am lieb­sten schon ohne Früh­stück los­ge­tip­pelt. Der Gedan­ke an den Zoo hat­te sie hell­wach gemacht. In den Stra­ßen gin­gen sie an einem ganz jun­gen Lei­er­mann vor­bei, der eine Son­nen­bril­le trug. Sei­nen Lei­er­ka­sten hat­te er auf einen klei­nen Hand­wa­gen geladen.

„Mama, kuck­ma, der hat eine Sol­da­ten­jacke an“, kräh­te Mill unge­niert im Vorbeigehen.

„So was sagt man nich und man zeigt nich mit dem Finger!“

An einer Haus­ecke saß ein jun­ger­Mann. Er trug eine deut­sche Sol­da­ten­jacke. Bei­de Bei­ne waren ihm vom Ober­schen­kel her ampu­tiert. Auf sei­ner klei­nen Mund­har­mo­ni­ka spiel­te er Wenn alle Brünn­lein flie­ßen.

Die Mut­ter drück­te Mill ein Geld­stück in die Hand und schob sie ihn in die Rich­tung der Musik. Erst ganz nah, kurz nach dem Klick der Mün­ze, erkann­te der Jüng­ste, dass der Ver­letz­te auf einem Stück Gum­mi saß. Es stamm­te aus einem LKW-Rei­fen. Er hat­te es sich mit einer selbst­ge­bau­ten Kon­struk­ti­on an Sei­len mit sei­nem Leder­gür­tel verbunden.

Die Elends­ge­stal­ten hat­ten die Vor­freu­de auf den Zoo­be­such nicht getrübt. In den Tier­gar­ten konn­ten sie alle sogar ohne Geld rein­ge­hen, ein­fach so. Sie sahen vie­le Schil­der mit den Namen der Tie­re, aber in den Frei­ge­he­gen und Käfi­gen fehl­ten die meisten.

Gro­ße Flä­chen waren in Gemü­se­gär­ten ver­wan­delt wor­den. Ein lah­men­des Zebra schlepp­te sich müh­sam an den Gehe­ge­zaun. Joa­chim rupf­te ihm ein Büschel von Löwen­zahn­blät­tern. Vor einem rie­si­gen, zer­bomb­ten Haus, das aus­sah, wie ein Tem­pel, stand ein indi­scher Ele­fant und pen­del­te mit Kopf und Rüs­sel stän­dig hin und her.

„Dett iss der een­zi­je Ele­fant, der den Kriech üba­lebt hat. Frü­ja hattn wa jan­ze Fami­li­en hier mit kleen Ele­fantnkind­an. Üba drei­tau­send Tie­re ham wa ma jehabt. Soll ick euch ma saren, wie ville dett jan­ze Schla­massl üba­lebt ham? Soll ick dett?“

Der dür­re, unra­sier­te Mann wand­te sich unge­fragt an die bei­den Brü­der. Er trug die Jacke der Ber­li­ner Zoowärter.

„Jan­ze drei­und­neun­zig! Könn­ta euch dett vor­stelln? Könn­ta natür­lich nich! Da rüba müs­s­ta jehn, zu det jro­ße Was­sa­bas­seng. Da könn­ta det een­zi­je Nil­pferd sehn. Kann­ste ohch Fluss­pferd dazu sagn.“

Die Jun­gen schwie­gen scheu.

Vor dem Nil­pferd­becken blie­ben sie ste­hen und staun­ten. Der Bul­le schwamm in einer undurch­sich­ti­gen Schei­ße­brü­he und war mit Augen und Nasen­lö­chern auf­ge­taucht. Nach­dem er sich in sei­nem ekli­gen, oliv­grü­nen Becken­was­ser unsicht­bar gemacht hat­te, kam nun sein Rie­sen­hin­tern mit dem Pin­sel­schwanz wie­der hoch. Ehe die Jun­gen es begrei­fen konn­ten, hat­ten sie schon ein paar Sprit­zer abge­kriegt, die der Bul­le mit hin-und her­we­deln­dem Schwanz wie ein Schei­ben­wi­scher gleich­mä­ßig außer­halb sei­nes Beckens ver­teil­te. Scha­den­fro­hes Geläch­ter. Sie kicher­ten hilf­los mit.

Beim Affen­haus waren die Zugän­ge mit Bret­tern ver­na­gelt. Ein paar Perl­hüh­ner und ein Pfau spa­zier­ten auf dem Besu­cher­weg. In einer gro­ßen Volie­re saßen zwei Gei­er und ein Kolk­ra­be auf Stan­gen und dösten. Spat­zen hat­ten einen Weg durch den Maschen­draht gefun­den und durch­such­ten den Boden nach Essbarem.

Jank ent­deck­te in einem klei­nen Käfig Gold­fa­sa­nen mit ihren Küken und rief Mill zum Bewun­dern her­bei. Der aber hat­te sich den Zoo so vor­ge­stellt, wie er ihn aus einem Mal­buch her kann­te, das er bei sei­nem letz­ten Geburts­tag in Oppeln mit Bunt­stif­ten aus­ge­malt hat­te. Ent­täuscht quen­gel­te er die Mut­ter mit sei­nem gewohn­ten, aber doch immer wie­der ent­ner­ven­den „Hab Hun­ger!“ an.

Als sie aus dem Tier­park wie­der hin­aus­gin­gen, war der lee­re Platz vor dem Ein­gang inzwi­schen voll von Menschen.

„Hedl, das ist der Schwarzmarkt.“

Ein Last­wa­gen kam ange­brummt. Die mei­sten Leu­te flüch­te­ten in den Zoo hin­ein. Eine Grup­pe von Poli­zi­sten sprang vom Mann­schafts­wa­gen her­ab. Sie rann­ten hin­ter den Flie­hen­den her, erwisch­ten aber nur ein paar älte­re Frau­en und Män­ner. Die muss­ten dann auf den Wagen stei­gen. Eine alte Frau weinte.

Auf dem Rück­weg zur Uhland­stra­ße 14 sahen sie den Sol­da­ten ohne Bei­ne immer noch an der Stra­ßen­ecke auf dem LKW-Rei­fen­stück. Er hat­te gera­de sei­ne Spucke aus der Mund­har­mo­ni­ka in die Hand­flä­che geklopft und stemm­te nun sei­nen Rumpf beid­hän­dig auf ein paar Mün­zen zu, die dane­ben­ge­fal­len waren.

„Du Mama, der Hans hat die glei­che. Die kan­ner auf zwei Seitn spieln. Das ist eine HOH­NER“, konn­te Jank beob­ach­ten. Der Blin­de mit dem Lei­er­ka­sten auf dem klei­nen Hand­wa­gen war nicht mehr zu sehen.

***

Zum Abend­essen in der Uhland­stra­ße gab es Brot, das mit gold­gel­bem Raps­öl beträu­felt wur­de. Hed­wig hat­te es der Frau Snura als Gast­ge­schenk mitgebracht.

„Hed­wig, eine Kest­lich­keit! Das schmeckt zu gutt!“

„Frau Snura, bitt­e­bit­te heu­te noch­mal die Geschich­te von der Frau, wo der Mann gestorbm is und wo es dann an der Tür geklopft hat und wo sie dann an die Tür gegangn is und da war nie­mand an der Tür!“

Frau Snura ließ sich doch erwei­chen, muss­te aber vor­her noch einen Stock höher zu einer jun­gen Frau. Die ließ sich ein­mal die Woche von ihr fri­sie­ren. Dafür bekam Frau Snura dann Brot, Schwei­ne­schmalz, Kar­tof­feln oder manch­mal sogar eine Kon­ser­ve von ihr.

„Das jun­ge Ding kriegt doch zwei­mal die Woche Besuch von a rus­sischn Major. Der hat immer was dabei. So weit hat’s missn komm, dass sich a deut­sches Medl anna Russn ver­koofm muss. Eig­nt­lich isse noch ver­lobt mit a Leut­nant von die Pan­zer. Den homm­se als ver­misst gemel­det. Ich bete zum Herr­gott, das­ser im Fel­de gebliebm is. Dem mech­te das Her­ze brechn, wen­ner das miss­te ansehn. Aber sonst isse a herzns­gut­tes Ding.“

Durch den Spalt der ange­lehn­ten Küchen­tür konn­ten Jank und Mill das alles mit­be­kom­men. Als Frau Snura dann von ihrer abend­li­chen Fri­sier­ar­beit wie­der aus dem obe­ren Stock her­un­ter­kam, leg­te Hed­wig den Zei­ge­fin­ger auf den Mund.

„Die brauchn kei­ne Gespen­ster mehr.“

Sie deu­te­te auf die Matratzenecke.